Altersforscherin und Bundesministerin Lehr gestorben

Anwältin der Senioren

Ursula Lehr galt als Pionierin der Alternsforschung. Doch als Frau in der Wissenschaft und später auf dem politischen Parkett musste sie sich gegen Widerstände behaupten. Nun ist sie gestorben, wie das Bonner Stadtdekanat mitteilte.

Autor/in:
Andreas Otto
Trauer um Ursula Lehr / © Harald Oppitz (KNA)
Trauer um Ursula Lehr / © Harald Oppitz ( KNA )

Ursula Lehr lebte, was sie lehrte. Über Jahrzehnte kämpfte die Wissenschaftlerin und frühere Bundesfamilienministerin dafür, dass die Gesellschaft Senioren nicht einfach abschreibt, sondern ihre Kompetenzen sieht und darauf setzt.

Mit ihrem nachhaltigen Engagement bis ins hohe Alter hinein war sie selbst der Beweis dafür, dass auch betagte Menschen Fähigkeiten haben und diese konstruktiv entfalten können. Am Montag ist die Altersforscherin mit 91 Jahren gestorben, wie das Bonner Stadtdekanat der katholischen Kirche mitteilte.

Pionierin der Alternsforschung

Lehr gilt als Pionierin der Alternsforschung. Die Autorin des Standardwerks "Psychologie des Alterns" gründete 1986 das Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg und 1995 das Deutsche Zentrum für Alternsforschung (DZFA). Ein kurzes Zwischenspiel hatte das CDU-Mitglied in der Politik: Von Ende 1988 bis 1991 gehörte sie als Chefin des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit dem Kabinett von Helmut Kohl an.

Lehr wurde am 5. Juni 1930 in Frankfurt am Main geboren. Dort und in Bonn studierte sie Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Damals lernte sie die Theorie kennen, dass sich Menschen nur bis zum Alter von 25 Jahren weiterentwickeln und es ab 45 wieder abwärts geht. Mit diesem Verständnis räumte sie auf. Alt werden sei "ein sehr vielschichtiger Prozess", der "sowohl die Zu- als auch die Abnahme von Fähigkeiten" umfasse.

Außer mit Altersfragen beschäftigte sich Lehr auch intensiv mit der Rolle der Frau und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch in dieser Frage prägten sie persönliche Erfahrungen. So habe sie sich in ihren Anfangsjahren als Wissenschaftlerin ziemlich durchsetzen müssen, erzählte sie. An der Philosophischen Fakultät Bonn habilitierte sie sich 1968 als erste Frau.

Sie sei doch verheiratet - und ihr Mann habe noch nicht einmal einen Doktortitel, habe es damals geheißen. "Während sonst bei der Habilitation vier bis fünf Gutachter üblich waren, hatte ich gleich zwölf. Auch bei meiner mündlichen Prüfung waren weit mehr Professoren da als sonst, nur weil eine Frau antrat."

Der Spagat von Familie und Beruf sei groß, bilanzierte Lehr. Aber Verantwortung für die Familie trügen Mutter und Vater. "Die Partnerschaft ist die Lösung." In diesem Sinne habe sich ihr Mann - neben sogenannten "Haustöchtern" - intensiv um ihre beiden Söhne gekümmert. "Er ist mit dem Kinderwagen losgezogen, was in den 1950er Jahren ganz ungewöhnlich war."

Kitas schon für Zweijährige öffnen

Als Ministerin plädierte Lehr dafür, Kitas schon für Zweijährige zu öffnen - und erntete dafür im eigenen politischen Lager heftigen Widerspruch. Die schlimmsten Briefe bekam sie "von Menschen, die sich als Katholiken bezeichneten". Lehr verwies auf Forschungen, wonach bereits Zweijährige die Fähigkeit haben, außerhalb der Familie zu spielen und sich wohl zu fühlen. Mit dieser wissenschaftlich längst allgemein anerkannten Position konnte sie sich damals nicht durchsetzen.

Die Politik sei für sie kein leichtes Feld gewesen, so Lehr. Als großen Pluspunkt bewertete sie, den Altenbericht über die Lage der Senioren initiiert zu haben. Dieser erscheint seit 1993 in jeder Legislaturperiode.

Politischen und gesellschaftlichen Einfluss übte die Anwältin der Senioren in einer anderen Rolle aus: Im Ruhestandsalter übernahm die zweifache Witwe 2009 für sechs Jahre den Vorsitz der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation (BAGSO).

In ihr wirkte sie danach als Ehrenpräsidentin mit - als 90-Jährige in der Corona-Krise selbstverständlich auch mit Videotelefonie. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes machte zudem im Kuratorium der Hilfsorganisation Care mit und gehörte dem Kuratorium der 2005 gegründeten "Bürgerstiftung Rheinviertel" an, die sich um gemeindliche und soziale Aufgaben der katholischen Kirche in Bonn-Bad Godesberg kümmert.

Ihre Devise: "Solange es geht, widme ich mich neuen Aufgaben - wohl wissend, dass jederzeit Schluss sein kann."

Quelle:
KNA