domradio.de: Sie haben damals Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg publik gemacht, dessen Rektor Sie damals waren – und sind damit zum Pionier der Aufklärung geworden. Im Jahr 2010 haben Sie quasi die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an katholischen Einrichtungen angestoßen. Überrascht es Sie, dass sich noch einmal 5 Jahre später solche Abgründe auftun – in einer so renommierten katholischen Bildungseinrichtung?
Pater Mertes: Es verwundert es mich nicht. Wir haben selbst die Erfahrung gemacht, auch zum Beispiel in Amerika, dass es eine Welle der Aufklärung gibt, die sich dann über Jahre hinwegzieht. Das hängt damit zusammen, dass sich zunächst einmal die Opfer dazu durchringen müssen, zu sprechen. Für sie ist das eine schwere und schwerwiegende Entscheidung. Aber ihre Entscheidung ist entscheidend für die Aufklärung.
domradio.de: Man kann ja durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich die katholische Kirche noch immer schwertut mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen an Kindern und Jugendlichen. Warum?
Pater Mertes: Weil in dem Moment, in dem ich erfahre, dass es solche Verbrechen in meiner Schule, in meiner Gemeinde, in meiner Diözese gegeben hat – und ich rede jetzt nicht nur von Bischöfen, sondern überhaupt von Gläubigen – ist das natürlich ein unglaublicher Schmerz. Dieser Schmerz stellt das gesamte Selbstverständnis der Institution infrage und äußert sich zunächst einmal in einer Abwehrhaltung den Opfern gegenüber. Das, was die Opfer zu sagen haben, will man nicht hören. Zugleich ist es eine Aufklärung, wenn man sie ernst nimmt, ja immer verbunden mit der Entscheidung, den Opfern zu glauben. Und auch das ist eine schwerwiegende Entscheidung. Denn wenn man den Opfern dann Glauben schenkt, hat das unmittelbare Konsequenzen für das Selbstbild.
domradio.de: Georg Ratzinger, der langjährige Leiter des Knabenchores, muss von den Missbrauchsfällen gewusst haben. Das hat Sonderermittler Ulrich Weber so gesagt – das schockiert natürlich viele. Wie kann das denn sein, dass ein selbst sicher sehr integrer Kirchenmann so lange über solch ungeheuerliche Vorkommnisse schweigt?
Pater Mertes: Ich kenne dasselbe Phänomen ja auch von uns Jesuiten am Canisiuskolleg in Berlin. Damals hatten wir einen Täter und vermuteten hundert Opfer oder mehr. Und auch da mussten wir uns fragen: Wie kann es sein, dass ganz integre Menschen es gewusst und verschwiegen haben? Ich erkläre das damit, dass die Betreffenden die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs in seinen Konsequenzen irgendwie gespürt haben und den Schmerz dieser Information nicht an sich heranlassen wollten. Man kann Opferberichten nicht zuhören ohne die Bereitschaft, sich selbst zu verändern. Das ist der entscheidende Punkt.
domradio.de: Wir sind aber heute noch mal fünf Jahre weiter – 2010 gab es eine ganze Welle von Missbrauchsfällen, die ans Licht kamen. Und natürlich wissen die Verantwortlichen heute, dass sie ihrer Kirche dadurch schaden, wenn sie bei der Aufklärung zum Beispiel Verzögerungstaktiken anwenden.
Pater Mertes: Das ist richtig. Und da meine ich auch, dass die Verantwortlichen ihre Konsequenzen daraus ziehen müssen. Dieses dauernde Sich-Entschuldigen nachträglich reicht nicht, das ist empörend!
domradio.de: Was wären denn die wichtigsten Konsequenzen?
Pater Mertes: Die erste entscheidende Konsequenz ist, die Verantwortung zu übernehmen für das, was man getan oder unterlassen hat; sich dem Gespräch mit den Opfern zu stellen und aufzuhören, ständig Sündenböcke zu suchen, auf Nestbeschmutzer oder die Presse oder andere zu schimpfen - sondern eben jetzt wirklich Verantwortung zu übernehmen, auch für das eigene Vertuschen. Meines Erachtens kann das bis zu Rücktritten führen. Ich fordere hier keine Rücktritte, aber ich verstehe nicht, wie es möglich ist, dass man hier ungeschoren aus so einer Geschichte herauskommt, nachdem man einen solchen Vorlauf von Vertuschung zugelassen hat - von Nichthören und Weghören. Ich will das gar nicht moralisch bewerten, sondern es geht im Kern darum, endlich wirklich Verantwortung zu übernehmen. In Regensburg ist ja der Prozess auch nicht erst seit 2010, sondern schon seit 2002 im Grunde genommen in Gange, als erste Vorgänge im Bistum bekannt wurden.
domradio.de: 2010 dann hatte der damalige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller die Fälle als "Einzelfälle" gewertet und von einer "Medienkampagne" gesprochen – das ist unter seinem Nachfolger Rudolf Voderholzer nun doch anders. Davon zeugt auch der Zwischenbericht. Was sagen Sie dazu – besser spät als nie?
Pater Mertes: Natürlich besser spät als nie! Aber jetzt gehört natürlich zu der Aufklärung nicht nur die Aufklärung des Missbrauchs, sondern auch die Aufklärung der Vertuschung und dann die Aufklärung der Vertuschung der Vertuschung des Missbrauchs.
domradio.de: Rechtsanwalt Ulrich Weber hat jetzt ein Kuratorium einberufen, das die Verbrechen aufarbeiten soll – mit Vertretern der Opfer, mit Vertretern des Stiftungsvorstandes der Domspatzen, mit dem Bischof, dem Generalvikar und Mediatoren. In Ihren Augen ein sinnvoller Schritt?
Pater Mertes: Sicherlich ist das ein sinnvoller Schritt. Wie es da jetzt im Einzelnen zur Zusammensetzung kommt, kann ich nicht beurteilen, da ich keine Kenntnis über die konkreten Vorgänge habe. Aber dass es hier zu einer Aufarbeitung kommen muss, und dass diese vor allem - und das ist entscheidend – unabhängig geschieht, das ist gut. Das ist jetzt in Regensburg mit der Person von Ulrich Weber offensichtlich gegeben. Das ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit des ganzen Vorgangs.
domradio.de: Was wünschen Sie den Opfern von Regensburg?
Pater Mertes: Dass sie Glauben finden mit ihren Geschichten und dass in der Anerkennung nicht nur die Anerkennung des Leides geschieht, sondern auch der Wahrheit ihrer Geschichten.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter