Franziskaner-Kustos zur Lage der Christen im Nahen Osten

"Das alte System ist zu Ende"

Die Christen in Nahost stehen aus Sicht des Franziskaner-Kustos Pierbattista Pizzaballa vor dramatischen Veränderungen mit ungewissem Ausgang. Im Interview spricht der 48-jährige Norditaliener über die Herausforderungen für die christliche Minderheit in einer unruhigen Region.

Kustos Pierbattista Pizzaballa (KNA)
Kustos Pierbattista Pizzaballa / ( KNA )

KNA: Pater Pizzaballa, ist Ihre Wiederwahl - die immerhin eine Abweichung vom Wahlprozedere darstellt - ein Zeichen, dass man sich in der gegenwärtig unruhigen Lage in der Region Stabilität sucht?

Pierbattista Pizzaballa: Es gibt wohl mehr als einen Grund. Aber natürlich brauchen wir Stabilität, und ich denke, das ist ein plausibler Grund.

KNA: Was prägt die gegenwärtige Lage in der Region?

Pizzaballa: Wir Christen hier stehen vor dramatischen Veränderungen.

In ein paar Jahren werden wir eine völlig andere Realität sehen - in allen Ländern, in denen wir beteiligt sind. Die Frage der Christen in Nahost ist bereits ein Fragezeichen. Was immer die politische Zukunft dieser Länder sein wird: Das alte System, wie es bis vor etwa zwei Jahren galt, ist beendet, auf politischer wie auf sozialer Ebene.

KNA: Das heißt?

Pizzaballa: Keiner kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen, wie es sein wird. Aber wir wissen, dass es eine Veränderung geben wird. In Syrien lebten Christen in einer gewissen Sicherheit. Jetzt müssen sie ihre Position in der Gesellschaft wieder aufbauen. Unsere alte Präsenz in Syrien ist beendet. Christen sind in Bewegung - wir können nicht voraussetzen zu bleiben, wo wir waren. Unsere gegenwärtige Priorität ist es, solidarisch zu sein. Aber auf lange Sicht müssen wir überlegen und flexibel sein. Vermutlich müssen wir einige Orte schließen, weil es keine Christen mehr dort gibt, und neue Orte eröffnen, um eine dynamische Präsenz zu haben. Aber noch ist es zu früh, darüber zu reden.  Auch in Ägypten ist die Debatte, die erst am Anfang steht, sehr harsch, aber auch sehr interessant: Die Frage der Identität des Staates, seiner Verfassung, des Umgangs mit Nicht-Muslimen, das alles wird den ganzen Nahen Osten beeinflussen.

Deshalb schauen wir mit großem Interesse auf Ägypten, auch wenn wir dort als Kustodie nicht präsent sind.

KNA: Was sind dann die einzelnen Bedürfnisse und Herausforderungen?

Pizzaballa: In Israel geht es um Identitätsfragen. Gegenwärtig gibt es in Israel eine große Debatte über den Militärdienst von Christen.

Eine christliche Partei wurde gegründet, vielleicht auch manipuliert, welche den Militär- und Zivildienst von Christen in Israel unterstützt mit der Begründung, sie seien Teil der Gesellschaft.

Gleichzeitig gibt es scharfe Reaktionen palästinensischer Christen.

Das zeigt, dass Fragen nach der eigenen Identität bestehen. Es sind schwierige Fragen, die wir aber nicht länger aufschieben können. Auf religiöser Ebene sehen wir einen sehr starken Prozess der Säkularisierung, wesentlich stärker in Israel als in allen anderen Ländern, weil es einen großen kulturellen Einfluss der israelischen Gesellschaft gibt. Der Bedarf an Bildung besteht, und wir müssen unseren Klerus auf die Herausforderungen vorbereiten. In Palästina ist die soziale Rolle der Kirche nach wie vor sehr relevant. Es gibt es weniger staatliche Unterstützung und die Pfarrei spielt traditionell eine größere Rolle. Der Bedarf an sozialer Unterstützung ist wesentlich höher und bindet eine Menge Energien. Gleichzeitig sehen wir ein Wachsen evangelikaler Gruppen auch in Palästina.

KNA: Sehen Sie - bei allem, was sich ändert - eine Zukunft für Christen in Nahost?

Pizzaballa: Natürlich! Es gab andere, nicht weniger dramatische Perioden, auch wenn es heute einfacher ist, auszuwandern. Die christlichen Wurzeln hier sind stark. Christen werden bleiben, auch wenn wir vielleicht weniger sichtbar sein werden als in der Vergangenheit. Symbolisch wird die Antwort auf die Frage nach dem christlichen Charakter von Jerusalem von großer Bedeutung sein, nicht nur für Christen hier, sondern für alle Christen.

KNA: Abschließend ein Wort zu Syrien ...

Pizzaballa: Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Menge Rhetorik über Syrien. Syrien ist gegenwärtig eine Katastrophe. Ein italienischer Journalist sagte, und ich stimme ihm zu: Es scheint, als ob Gott wie im Buch Hiob dem Satan die Freiheit gegeben hat, in Syrien einzuziehen. Das ist mein Eindruck. Es gibt muslimisch-moderate Gruppen, muslimisch-extremistische Gruppen und dazwischen eine Reihe von Kriminellen, die in der Verkleidung von Muslimen daherkommen und den Krieg zu ihren Gunsten nutzen. Meine große Sorge ist, dass Syrien ein zweiter Libanon in Zeiten des Bürgerkriegs werden könnte, mit einer tiefen Spaltung des Landes und einem internen Krieg, der lange dauert, und dass dieser Krieg in den Libanon exportiert werden könnte. Ich stimme zu, dass es eine politische Lösung geben müsste. Aber das ist nicht realistisch. Ich denke, den meisten ist klar, wie komplex die Situation ist, aber es ist nicht klar, was zu tun ist: Wir können keinen Assad unterstützen, aber es ist auch unmöglich, Al-Kaida zu unterstützen.

Das Interview führte Andrea Krogmann.


Quelle:
KNA