Plädoyer für gesellschaftliche Verantwortung

Sterbehilfe zeugt von einem "Mangel an Mitleid"

Der Streit um die Sterbehilfe ist in Deutschland neu entflammt. Wird das selbstbestimmte Lebensende die Welt verbessern? Der Philosoph Robert Spaemann und der Theologe Bernd Wannenwetsch sind skeptisch.

"Sterbende nicht isolieren" / © Alexander Raths
"Sterbende nicht isolieren" / © Alexander Raths

Ausgelöst hat die gesellschaftliche Debatte über Beihilfe zur Selbsttötung der Appell von Prominenten, ein selbstbestimmtes Lebensende zu ermöglichen. Scharf widersprochen hatte ihm der SPD-Politiker Franz Müntefering. Erneut auf die politische Agenda kam das Thema durch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der ein Gesetz zum Verbot organisierter Suizidhilfe will. In der vergangenen Legislaturperiode war unter der Regierung von Union und FDP ein entsprechender Gesetzentwurf gescheitert, weil er der Union nicht weit genug gegangen war.

Gefährliches Lob auf den "Freitod"

Mit einer Streitschrift für ein menschenwürdiges Sterben wenden sich ein katholischer Philosoph und ein evangelischer Theologe an die Öffentlichkeit. Robert Spaemann, Philosoph und Publizist in Stuttgart, hält das mittlerweile gesellschaftlich verbreitete Lob auf den "Freitod" für gefährlich. Aus dem Recht zum Selbstmord werde unversehens eine Pflicht, schreibt er, denn der Druck von außen nehme zu. Wenn ein alter Mensch hohe Kosten verursache und die Umgebung ihm zu verstehen gebe, wie lästig er sei, gebe es zu einem Ja zum Suizid kaum eine Alternative.

Wer entscheidet über "lebensunwertes Leben"?

Wohin die Reise geht, beschreibt der Philosoph anhand der Entwicklung in den Niederlanden mit deren liberalen Sterbehilferegelungen. Dort werde bereits ein Drittel der jährlich legal Getöteten nicht mehr auf eigenes Verlangen aus dem Leben befördert, sondern auf das Urteil von Ärzten und Angehörigen hin. Sie entschieden, dass es sich hier um "lebensunwertes Leben" handele.

Doch selbst bei Zustimmung lägen die Motive oft anders als vermutet. Eine niederländische Studie weise nur 10 von 187 Fällen aus, in denen Schmerzen der alleinige Grund für den Sterbewunsch gewesen seien. In weniger als der Hälfte aller Fälle spielten Schmerzen überhaupt eine Rolle. Man wolle aus dem Leben scheiden, weil man sich in "einer Situation des Sich-verlassen-Fühlens" befinde, so Spaemann.

Hospiz, nicht Euthanasie

Dass eine überbordende Apparatemedizin die Notwendigkeit der Debatte verschärft, weiß auch der Philosoph. "Muss eine 88-Jährige, die eine Hirnblutung erlitten hat und ohnmächtig ist, Tage vor ihrem erwarteten Tod noch eine aufwendige Hirnoperation über sich ergehen lassen?", fragt er. Aus moralischer Sicht müsse der Sterbeprozess nicht um jeden Preis aufgehalten werden. Töten sei aber tabu.

Spaemanns Fazit: "Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasiebewegung, ist die menschenwürdige Antwort auf unsere Situation."

Ähnlich sieht das Bernd Wannenwetsch, lutherischer Pfarrer aus Bayern und heute Theologieprofessor im schottischen Aberdeen. Der Druck zu einem "guten Sterben" entstehe oft eher durch die Leidensscheu anderer, die es nicht ertragen könnten, im Angesicht von Siechtum und Todeskampf beim Sterbenden auszuharren. Beihilfe zur Selbsttötung zeuge von einem Mangel an Mitleid.

Sterbende nicht isolieren

Der Theologe widerspricht aber auch einer "frommen Zensur", derzufolge Christen tapfer und siegesgewiss dem Tod ins Auge sehen müssten. Jesus Christus werde in den Evangelien "in geradezu bestürzender Weise" als ein Mensch gezeichnet, der den Tod gefürchtet habe.

Gemeinsames Merkmal von Sterbehilfe und künstlicher Lebensverlängerung sei ein Aktivismus, der etwas unternehmen müsse.

"Entweder man zwingt den Menschen zum Leben, oder man zwingt ihn zum Tod", kritisiert Wannenwetsch. Sterbende sollten nicht isoliert werden, eine Gesellschaft habe für diese Menschen eine gemeinsame Verantwortung.


Kirche: Für Achtung der Würde des Sterbenden / © ArVis
Kirche: Für Achtung der Würde des Sterbenden / © ArVis
Quelle:
epd