Als "Novum in der Geschichte des Deutschen Bundestags" bezeichnete Parlamentshistoriker Michael F. Feldkamp die Debatte am Donnerstag. Er könne sich auch vorstellen, "dass damit eine neue Debattenkultur initiiert wird". Denn zu dem schwierigen Thema liegen bislang weder Gesetzentwürfe noch Anträge, sondern nur Positionspapiere vor, auf die sich jeweils einzelne Abgeordnete verständigt haben.
Mehrere Anläufe für ein Gesetz scheiterten
Nach mehreren gescheiterten Anläufen im Bundestag konnten sich Union und SPD zunächst nicht darauf einigen, ein Gesetzesvorhaben zur Suizidbeihilfe in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) stieß dann eine Debatte an, die das Parlament aufgriff. Die Fraktionen einigten sich darauf, nicht den zuständigen Ministerien die Initiative zu überlassen, sondern eine Gesetzesinitiative aus der Mitte des Parlaments zu starten. Dazu ist auch der "Fraktionszwang" aufgehoben.
Bei einer vereinbarten Redezeit von je fünf Minuten sollen 48 Abgeordnete zu Wort kommen. Das Rederecht wurde nach der Stärke der Fraktion erteilt. Zugleich sind Interventionen zugelassen - also die Möglichkeit, vom Platz aus Fragen zu stellen oder kurze Stellungnahmen abzugeben. Da sich viele Abgeordnete noch nicht festgelegt haben, könnte im besten Fall der Zuhörer gleichsam an der Urteilsfindung des Gesetzgebers teilnehmen. Denn üblicherweise ist das Pro und Contra in den Ausschüssen oder Gruppen bereits geklärt, und die Debatte wird nicht selten zum rhetorischen Schlagabtausch bekannter Positionen.
Verschiedene Parlamentarier-Gruppen haben fraktionsübergreifende Positionspapiere formuliert. Inhaltlich geht es insbesondere um die Beihilfe zur Selbsttötung und die Frage, ob es Ärzten und Sterbehilfevereinen künftig erlaubt sein soll, sterbenskranken Patienten beim Suizid zu helfen.
Die Spannweite der Anträge reicht von einen ausdrücklichen Verbot jeglicher ärztlicher und organisierter Form von Sterbehilfe bis hin zu einer ausdrücklichen Zulassung von nicht-kommerziell arbeitenden Sterbehilfevereinen und einer Erlaubnis ärztlicher Beihilfe zum Suizid. Zugleich haben Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und Gesundheitspolitiker aus Union und SPD ein Konzept vorgelegt, um Palliativmedizin und Hospizarbeit zu stärken.
Katholische Kirche gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe
Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode sprach sich gegen eine ärztliche Beihilfe zum Suizid sowie gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe aus. Der Mensch könne nicht über sein eigenes Leben verfügen, denn er verdanke es nicht sich selbst, sondern Gott, sagte er am Mittwoch in Osnabrück. Der neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, forderte eine Stärkung der Palliativmedizin. Es müsse verhindert werden, dass Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung zu einer normalen Alternative würden, sagte er der Wochenzeitung «Die Zeit» (Donnerstag).
Debatte zur "Primetime"
Der letzte, 2012 vorgelegte Gesetzentwurf zu dem Thema aus dem Haus der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) scheiterte an Differenzen von Union und FDP. Die Erste Lesung wurde auf den späten Abend terminiert, die Reden zu Protokoll gegeben. Das war's. Die "Orientierungsdebatte" findet nun hingegen zur Primetime des Parlaments statt: am Donnerstagmorgen.
Derartige Debatten um ethische Grundsatzfragen werden gerne "Sternstunden" des Parlaments genannt. Parteitaktik und eine bisweilen harte Rhetorik treten hinter dem existenziellen Ernst zurück, und die Abgeordneten gewähren persönlichere Einblicke in Weltanschauung und Seelenlage. Das galt etwa bei den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, dem Import embryonaler Stammzellen, der Präimplantationsdiagnostik oder der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen.
Die Beiträge wirken authentischer und bewegen sich häufig auf hohem Niveau. Deshalb sprach sich der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel dafür aus, den Fraktionszwang im Bundestag häufiger aufzuheben. Die gesellschaftlichen Konsequenzen vieler Entscheidungen stellen die Bezeichnung "Sternstunden" allerdings wieder infrage. So stellte etwa die Mainzer Moraltheologe Johannes Reiter ernüchtert fest: "Rückblickend waren diese Sternstunden jedoch nichts anderes als politische Schlachten um die Moral der Mehrheit mit dem Ergebnis eines relativierten Lebensschutzes."
Öffentliche Anhörung im Februar geplant
Am Donnerstag wird aber nichts entschieden. Es geht um Orientierung. Im Februar soll es zudem eine große öffentliche Anhörung geben. Die Parlamentarier haben sich bewusst Zeit genommen, auch um eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Wie viele Gesetzesvorlagen es schließlich geben wird, ist noch offen. Einige Positionspapiere liegen nicht weit auseinander. Die rechtliche Regelung will der Gesetzgeber erst im kommenden Herbst verabschieden.