Islamischer Theologe Khorchide provoziert mit neuer Lesart der Scharia

"Die Scharia ist kein Gesetz"

Die Scharia ist nach Ansicht des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide kein juristisches Regelwerk. In seinem Buch "Scharia - der missverstandene Gott" provoziert er mit einer neuen, spirituellen Lesart.

Autor/in:
Barbara Schneider
Mouhanad Khorchide (epd)
Mouhanad Khorchide / ( epd )

Viele Nichtmuslime verbinden mit der Scharia, dem islamischen Rechtssystem, Körperstrafen und Diskriminierung. Demgegenüber gilt sie in der muslimischen Welt vielen als göttliches Gesetz, das unbedingt eingehalten werden muss. "Über kaum einen Begriff wurde in den letzten Jahren und wird noch immer so kontrovers diskutiert wie über den Begriff Scharia", sagt der islamische Theologe Mouhanad Khorchide. In seinem neuen Buch "Scharia - der missverstandene Gott" legt der Religionspädagoge eine eigene, spirituelle Interpretation vor.

Die Scharia, so argumentiert er, ist nicht primär die Frage nach Erlaubtem oder Verbotenem. Es geht nicht um ein festes Regelwerk, das etwa das Essen von Gelatine verbietet, Frauen Nagellack untersagt oder von Männern das Tragen von Bärten fordert. Der Professor, der am Centrum für Religiöse Studien in Münster Religionslehrer ausbildet, übersetzt das Wort Scharia aus dem Arabischen mit "der Weg zu Gott".

"Der Koran spricht das Herz des Menschen an", schreibt Khorchide in seinem Buch. "Religion auf juristische Maßnahmen zu reduzieren, bedeutet weniger Arbeit am Herzen und mehr Befolgung von Gesetzen." Dem Theologen geht es daher um die geistige Befreiung, er vertritt eine angstfreie Religion. "Gott muss im Herzen ankommen, erst dann beginnt Religiosität."

Entscheidend ist die innere Haltung

Zugleich lehnt Khorchide die islamischen Rituale nicht ab. Er gibt ihnen allerdings eine andere Bedeutung: Gebet, Fasten, soziale Pflichtabgabe und Pilgerfahrt eröffnen nach seiner Ansicht den Muslimen die Chance zu Spiritualität und Gotteserfahrung.

Entscheidend ist die innere Haltung, nicht das äußere Einhalten von Ge- und Verboten. Muslime sollten sich zuerst Sorgen um ihre innere Vollkommenheit machen, fordert er. "Der Islam will, dass der Mensch hart an sich arbeitet, bis er das Gute um des Guten willen verrichtet."

Khorchides Deutung des Islam ist unter Muslimen nicht unumstritten. Diese Erfahrung machte der Religionspädagoge bereits mit seinem 2012 im Herder-Verlag veröffentlichten Buch "Islam ist Barmherzigkeit", in dem er die Vision eines aufgeklärten Islams entfaltete. Mehrere muslimische Funktionäre warfen dem Theologen vor, die Grundzüge des Islams zu verraten. Ramazan Ucar vom Bund Islamischer Gemeinschaft in Hamburg etwa forderte ihn nach der Veröffentlichung des Buches zur "Reue" auf.

Auch mit seinem neuen Buch provoziert Khorchide. Sein Scharia-Verständnis ist die Fortsetzung der Diskussion um einen barmherzigen Islam. "Es ist im Bewusstsein der Muslime stark verankert, dass sie sich an religiöse Rituale, wie das Beten oder das Fasten halten sollen. Wenn es jedoch um die Befreiung von negativen Eigenschaften oder Handlungen wie Neid, Hass oder üble Nachrede geht, dann ist dies kaum verankert", merkt der Theologe an.

Warnung vor Salafisten

Zugleich nimmt er die radikale Koranauslegung salafistischer Prediger in den Blick. Er warnt vor dem Gewaltpotenzial dieser radikal-islamischen Strömung, die nach Angaben des Verfassungsschutzes rund 4.500 Anhänger in Deutschland hat: "Aufrufe zum Töten von Menschen, weil sie andere theologische Positionen vertreten, stehen im klaren Widerspruch zur Botschaft Muhammads." Salafisten verkörperten "einen Islam ohne Herz, sie argumentieren aggressiv, sprechen anderen Muslimen, die andere Positionen vertreten, den Glauben ab."

Diesem Denken setzt Khorchide eine Koranauslegung entgegen, die weder Fatwas (Rechtsgutachten) formuliert noch konkrete Antworten auf einzelne Fragen gibt. Stattdessen will er "eine Perspektive zeigen, wie man Scharia jenseits einer dogmatischen oder juristischen Auffassung verstehen kann." Mit seiner spirituellen Deutung verlangt er seinen muslimischen Glaubensbrüdern und -schwestern viel ab.


Quelle:
epd