KNA: Frau Käsehage, Sie forschen zum Salafismus. Was ist das überhaupt?
Nina Käsehage (Religionswissenschaftlerin): Der Salafismus gliedert sich in drei verschiedene Strömungen: die klassische, die mittelalterliche und die gegenwärtige. Die heutige Szene beruft sich auf den Salafismus, der eher rückwärtsgewandt ist. Seine Anhänger sind überzeugt, dass der Islam und die Moderne sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Sie wollen sich an den sogenannten Altvorderen orientieren, den ersten drei Generationen während und nach den Lebzeiten des Propheten Mohammed. Im 19. Jahrhundert hat der Salafismus die Moderne dagegen miteinbezogen.
KNA: Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Käsehage: Zunächst habe ich über Konversion zum Islam innerhalb Deutschlands geforscht. Ungefähr die Hälfte der Befragten war bereits vor mehreren Jahren übergetreten, aus innerer Überzeugung und um religiöses Wissen zu erwerben. Einige haben sich selbst aber auch als Salafisten bezeichnet. Das war 2011/2012, und damals kannte man den Salafismus eher aus Saudi-Arabien und Ägypten. Da habe ich mich gefragt, wie es sein kann, dass sich viele junge Menschen davon angezogen fühlen. Ab Sommer 2012 überschlugen sich die Ereignisse: Aus einer kleinen, religionsbezogenen Gruppe entwickelte sich eine europaweite Szene.
KNA: Heute gilt Salafismus fast als Synonym für den radikalen Islam. Wie bewerten Sie das?
Käsehage: Damit legt man eine Schablone über eine gesamte Szene, die ihr nicht gerecht wird. Viele Salafisten lehnen Gewalt ab und treten den Terroristen entgegen. Dadurch gibt es innerhalb der Szene regelrechte Feindschaften. Manche Salafisten wollen tatsächlich den Staat verändern, beispielsweise durch eine Scharia-Gesetzgebung. Auf der anderen Seite stehen jene, die zwar eine andere Vorstellung vom Staat haben und den Islam anders praktizieren wollen als die moderaten Muslime, die aber Gewalt und Politisierung grundsätzlich ablehnen. Es tut der gesellschaftlichen Debatte nicht gut, wenn man alle Mitglieder dieser Szene plakativ als Terroristen bezeichnet.
KNA: Gibt es überhaupt eindeutige Anzeichen für Radikalisierung?
Käsehage: Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich; ein Patentrezept oder eine Checkliste gibt es nicht. Wenn jemand sich mit dem Islam befasst, ist er zumeist auf der Suche nach religiöser Identität. Wenn aber diese Suche dazu führt, dass andere ausgegrenzt werden, dass jemand nichts mehr neben sich duldet, wäre das ein erstes Alarmzeichen. Dann sollten Familienmitglieder, Freunde oder Lehrer aufmerksam werden - ohne den Betroffenen zu observieren.
KNA: Was können Institutionen wie die Islamverbände oder die Kirchen tun?
Käsehage: Meiner Erfahrung nach sind sowohl evangelische als auch katholische Seelsorger sehr engagiert und tolerant. In abgestufter Weise gilt das auch für viele Islamvertreter. Zugleich ist es bedenklich, dass manche Moscheevereine eine Radikalisierung nicht aufhalten, sondern sogar fördern - darüber müsste debattiert werden. Die innerislamische Kritik ist noch nicht so weit verbreitet, wie ich es mir wünschen würde. Viele Vereine befürchten rechte Hetze, wenn sie innere Debatten nach außen dringen lassen. Für die Gemeinden ist das ein Drahtseilakt, aber sie müssten aktiver werden.
KNA: Welche Rolle spielt die Religion bei der Radikalisierung? Diese Frage wird nach jedem Terrorakt diskutiert...
Käsehage: Diese ständige Debatte setzt diejenigen unter Rechtfertigungsdruck, die nicht radikal sind. Diejenigen aber, die nach wie vor radikal sind, fühlen sich nicht dazu bemüßigt, sich zu äußern oder gar umzudenken. Insofern dreht sich die Debatte im Kreis. Ratsamer wäre es, einander mit offenem Visier zu begegnen und Vorurteile außen vor zu lassen. Im interreligiösen Dialog wäre es wünschenswert, auf wissenschaftlicher Ebene zu diskutieren und nicht nur persönliche Überzeugung zu benennen. Es braucht die Fähigkeit zu abstrahieren.
KNA: Geschieht dies nicht bereits?
Käsehage: Bei den Kirchen passiert das. Sie sind sehr dialogbereit, gehen von gutem Willen und gegenseitigem Respekt aus. Sie stoßen allerdings an ihre Grenzen, wenn darauf mit Undankbarkeit und mangelndem Respekt reagiert wird. Ein Beispiel aus meiner Forschung: Ein Pastor hat einer muslimischen Gemeinde den Gottesdienstraum zum Gebet zur Verfügung gestellt. Kreuze und religiöse Bilder wurden abgehängt - und mehrere beschädigt. Dafür hat sich niemand entschuldigt. Wenn so etwas mehrfach passiert, verärgert das auch den friedlichsten Pastor. Wer tolerant sein möchte, darf auch die Toleranz der Gegenseite erwarten.
KNA: Wie könnte man diesem Dilemma entkommen?
Käsehage: Ich sehe bei der Kirche ein wahnsinniges Potenzial; von ihr gehen viele Initiativen für Frieden und Zusammenhalt aus. Darin sollte sie gestärkt werden. Negativbeispiele könnten Kirchenvertreter durchaus benennen, ohne jemanden anzuprangern - um über Probleme offen ins Gespräch zu kommen. Das kann nur im Sinne der Islamverbände sein, die das Zusammenleben konstruktiv gestalten wollen.
Das Interview führte Paula Konersmann.