Nun hat auch Papst Franziskus die jüngere Kirchengeschichte um eine historische Vergebungsbitte bereichert. Am Montag besuchte er in Turin die Kirche der Waldenser. Jahrhundertelang hatte die katholische Kirche die protestantische Glaubensgemeinschaft als Ketzer und Häretiker verfolgt - mit Feuer und Schwert, es ging um deren physische Ausrottung. Keiner weiß, wie viele Menschen im Mittelalter durch die als "Kreuzzüge" bezeichneten Vernichtungskampagnen umkamen. "Für die katholische Kirche bitte ich euch um Vergebung für all jene unchristlichen, ja unmenschlichen Handlungen und Einstellungen, die wir in der Geschichte gegen euch gerichtet haben. Im Namen Christi, vergebt uns!", sagte der Papst. Nach seiner Rede folgte ein lauter Applaus der Gemeinde.
Brüderlichkeit im Glauben
Die im 12. Jahrhundert vom Lyoner Kaufmann Petrus Valdes (um 1140-1206) gegründete Glaubensgemeinschaft zählt heute rund 100.000 Mitglieder. Sie leben vor allem in Italien. Ihre Forderung nach radikaler Armut, der Protest gegen Ablasshandel und Heiligenverehrung, gegen die Kirchenhierarchie und das Monopol des Lehramts brachten ihr den Zorn Roms ein. Seit Jahren wachsen das Vertrauen und die Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Waldensern. Beide hätten ihre "Brüderlichkeit" im Glauben an Jesus Christus wiederentdeckt, so Franziskus. Er sprach aber auch weiterbestehende "wichtige Differenzen in anthropologischen und ethischen Fragen" an.
Wie selbstverständlich richtete der Papst seine Rede an die Brüder und Schwestern der Waldensischen "Kirche". In offiziellen katholischen Stellungnahmen werden Protestanten dagegen lediglich als "kirchliche Gemeinschaften" anerkannt. Waldenserpfarrer Eugenio Bernardini bat den Papst ganz direkt um eine Änderung, nebst konkretem Datum: "Wir haben nie begriffen, was dieser Ausdruck bedeutet. Eine halbe Kirche? Ein Kirche, die keine Kirche ist? Wir glauben, das muss überwunden werden. Ein schöner Anlass wäre das Jahr 2017, wenn wir an 500 Jahre Reformation erinnern." Auch wenn die Vergebungsbitte somit aus Sicht der Waldenser eine historische Etappe bleibt, zählte dieser Moment sicherlich zu den bisherigen ökumenischen Höhepunkten im Pontifikat von Franziskus.
Gemeinsames Gebet
Daneben prägten soziale Themen und auch viel persönliche Emotion dessen zweitägige Turin-Reise. Am Sonntag hatte er zunächst vor dem Turiner Grabtuch gebetet, das noch bis Mittwoch im Dom ausgestellt ist. Anlass ist der 200. Geburtstags des Turiner "Sozialheiligen" Giovanni Bosco (1815-1888). Auch am Grab Don Boscos betete Franziskus am Sonntagnachmittag. Zuvor hatte er mit Zehntausenden auf der Piazza Vittorio am Ufer des Po eine Messe gefeiert. Fast ebenso gut besucht war am Abend ein Treffen mit Jugendlichen an gleicher Stelle. Immer wieder mahnte der Papst in seinen Ansprachen für eine Kultur der Solidarität mit Benachteiligten, ganz besonders mit Flüchtlingen. Sie seien nicht schuld an sozialer Misere, sondern selbst Opfer einer gnadenlos profitorientierten Weltwirtschaft.
Begegnung mit Jugendlichen und Verwandten
Mehrfach prangerte Franziskus die hohe Jugendarbeitslosigkeit an. Über 40 Prozent der 15- bis 25-jährigen Italiener sind ohne Job oder Ausbildungsplatz. "Es macht mich traurig zu sehen, dass hierzulande schon 20-Jährige in Rente gehen", rief er den Jugendlichen zu und traf damit offenbar genau deren Mischung aus Enttäuschung und Galgenhumor. Der Jubel hielt sogar an, als er den nach seinen eigenen Worten wohl recht unpopulären Appell für sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe vorbrachte: "Seid keusch!" Auch im immer noch katholisch geprägten Italien hat dieses Attribut nicht gerade Hochkonjunktur.
Dass diese Reise für Franziskus so oder so buchstäblich zum Heimspiel wurde, hatte familiäre Gründe. Nur rund 50 Kilometer von Turin entfernt wurde 1908 sein Vater geboren, der später mit den Eltern nach Argentinien auswanderte. "Ich bin ein Enkel dieses Landes", bekannte Franziskus während der Messe hörbar berührt. Und am Montag widmete er sich bei einem privaten Treffen in der bischöflichen Residenz gleich mehrere Stunden rund 30 Verwandten aus der Region.
Christoph Schmidt