Angesichts der dramatischen Situation vor Ort sei es kein Eingeständnis von Schwäche der Politik, den Kontakt mit den Asylsuchenden aufzunehmen, sagte der Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland, Pater Frido Pflüger, in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Selbst bei radikalen Protesten bilde erst das Gespräch die Basis für eine Lösung. Dies müsse jetzt auf jeden Fall geschehen, sagte der Jesuitenpater.
Es ist grotesk anmutende Situation: Vor dem Brandenburger Tor campieren seit gut einer Woche rund 30 hungerstreikende Flüchtlinge, die inzwischen auch keine Getränke mehr zu sich nehmen. An ihnen laufen Touristen vorbei, einige zücken ihr Handy und machen ein Foto. Schräg gegenüber dem Traditionshotel Adlon versuchen die Protestler unterdessen, Regen und Kälte zu trotzen. Sie wollen bleiben, bis zumindest einige ihrer Forderungen erfüllt sind und etwa ihre Asylanträge anerkannt werden.
"Viele von uns riskieren hier zum zweiten Mal ihr Leben"
"Viele von uns riskieren hier zum zweiten Mal ihr Leben", sagt Brook Tadele, der vor einem Jahr aus Äthiopien nach Deutschland flüchtete. Mit seinen Schicksalsgenossen kam er aus Bayern in die Bundeshauptstadt. In unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes würden sich die Politiker schnell um ihre Probleme kümmern, so dachten sie.
Warum sich bislang nur wenige Bundestagsabgeordnete - der Grünen und Linken - bei ihnen blicken ließen, kann der 25-jährige Tadele nicht verstehen: "Sie reden doch die ganze Zeit von Lampedusa, hier könnten sie endlich konkret helfen."
Unverständnis, Enttäuschung, Frust. Dazu kommt bei vielen die körperliche Entkräftung. Mehrmals kollabierten Flüchtlinge bereits, mussten ärztlich versorgt werden. Aufgeben wollen sie trotzdem nicht. Mit ihrem Protest vor dem Brandenburger Tor fordern die teilweise seit mehreren Jahren in Deutschland lebenden Flüchtlinge die Anerkennung als Asylsuchende und bessere Lebensbedingungen in Sammelunterkünften.
P. Pflüger: Was sie wollen, ist ja korrekt
Pater Pflüger zeigte Verständnis für den Hungerstreik, auch wenn die Protestform vonseiten der Politik als Erpressung angesehen werden könnte: "Was sie wollen, ist ja korrekt." Tausende von Asylsuchenden in Deutschland befänden sich in derselben Lage wie die Hungerstreikenden in Berlin. "Die Verfahren dauern zu lange, die Lebensumstände in den oft überfüllten Gemeinschaftsunterkünften sind einfach erniedrigend", sagte der Jesuitenpater. Asylsuchende seien "über Jahre hinweg zum Nichtstun verdonnert". Viele würden dadurch psychisch krank. Dies sei dabei kein speziell bayerisches Problem, sagte Pflüger mit Blick auf die Herkunft der Hungerstreikenden, die vornehmlich in Bayern als Flüchtlinge gemeldet sein sollen.
Innenministerium lehnt Ausnahmen ab
Das Bundesinnenministerium lehnt Ausnahmeregelungen für die vor dem Brandenburger Tor lagernden Flüchtlinge ab. Ob jemand nach den international anerkannten Regeln den Flüchtlingsschutz benötige, werde in Deutschland im Asylverfahren geklärt "und nicht auf Straßen und Plätzen", sagte ein Sprecher des Ministeriums dem Berliner "Tagesspiegel" (Samstag). "Eine bevorzugte Prüfung bestimmter Asylanträge geht immer auf Kosten anderer Antragsteller, die dann länger warten müssen."
Die Flüchtlinge waren aus Bayern nach Berlin gekommen, um für mehr Rechte und gegen die Bedingungen in den Unterkünften zu protestieren. Sie wollen bleiben, bis zumindest einige ihrer Forderungen erfüllt sind und etwa ihre Asylanträge anerkannt werden.
"Eingepfercht und weit weg von der Bevölkerung"
"Wir wollen nicht zurück in unsere Unterkünfte in Bayern", so Tadele, der sich bereits an einem Hungerstreik im Sommer in München beteilige. "Eingepfercht und weit weg von der Bevölkerung."
Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt seit Monaten. Allein im September gingen rund 11.460 Asyl-Ersteinträge ein, der höchste Wert seit Oktober 1996. Und vor allem mit Blick auf die Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa wird der Ruf nach einer neuen Flüchtlingspolitik lauter. Wie in Hamburg, wo Flüchtlinge in Kirchen Zuflucht gefunden haben, haben sich auch in der Bundeshauptstadt kirchliche Einrichtungen eingeschaltet.
Jesuiten-Flüchtlingsdienst: Soziales Leben ermöglichen
Heiko Habbe, Jurist beim Jesuitenflüchtlingsdienst in Berlin, teilt etwa die Kritik an den Zuständen in Bayern. "Die Flüchtlinge werden dort in Sammelunterkünften in entlegenen Gegenden untergebracht", bestätigt er. Nach wie vor gebe es zudem die fragwürdige Praxis von Sachleistungen anstelle direkter finanzieller Hilfe. Flüchtlinge müssten dort untergebracht werden, wo soziales Leben möglich ist, fordert Habbe. Und sie sollten sich aussuchen dürfen, was sie essen.
Die protestierenden Flüchtlinge erhalten inzwischen von verschiedenen Seiten Unterstützung. Spitzenvertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Diakonie besuchten die Betroffenen am Brandenburger Tor. Auch die Berliner Caritas meldet sich zu Wort. Der Protest der Flüchtlinge weise auf drängende Probleme hin, die unbedingt angegangen werden müssten, betont deren Direktorin Ulrike Kostka.
Caritas und Kardinal Woelki bieten Unterkunft an
Gemeinsam mit Kardinal Rainer Maria Woelki hat der Wohlfahrtsverband schon vor einem Jahr ein leerstehendes Altenheim als Unterkunft für Flüchtlingsfamilien angeboten. Dort könnten 80 Menschen unterkommen. An dem Haus sind jedoch noch Baumaßnahmen wegen Brandschutzauflagen erforderlich. Die Verhandlungen mit dem Landesamt für Gesundheit und Soziales ziehen sich jedoch seit Monaten in die Länge, kritisiert Kostka.
Derweil drängen die Flüchtlinge auf Verhandlungen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und auf politische Lösungen. Sobald es diese Gesprächsbereitschaft gebe, wollten sie ihren lebensgefährlichen Protest beenden. Dies deutet sich im Moment nicht an. Die Asylanerkennung sei ein rechtstaatliches Verfahren, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.
So harren die Protestler aus Afghanistan, Iran, Pakistan, Senegal und Kongo weiter mit dem Notdürftigsten aus. Zelte dürfen sie nicht aufstellen, so schützen sie nur bunte Regenschirme vor den widrigen Bedingungen des Herbstes. "Wir haben immer Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wendet", meint Tadele. Aus seinem dicken Kapuzenpullover zieht er eine Kette mit Kreuzanhänger. "Ich bin orthodoxer Christ", sagte er mit fester Stimme. "Und ich bete hier Tag und Nacht."