DOMRADIO.DE: Mächtige Banden versuchen, die Macht in Haiti an sich zu reißen. Wer steckt hinter diesen Banden?
Soraya Jurado (Haiti-Referentin beim bischöflichen Hilfswerk Adveniat): Das ist eine gute Frage, zu der ich keine Antwort habe. Ich denke mal, dass einflussreiche Familien dahinter stecken. Aber das ganze Machtgefüge in Haiti ist schon seit mehreren Jahren sehr undurchsichtig. Eine konkrete Antwort dazu kann ich Ihnen nicht geben.
DOMRADIO.DE: Aber warum gelingt es der Regierung nicht, die Situation in Haiti zu kontrollieren?
Jurado: Weil die Regierung nicht vorhanden ist. Wir haben seit dem Tod des gewählten Präsidenten 2021 eine Interimsregierung, der Ariel Henry als Premierminister vorgesessen hat.
Er ist Montagabend zurückgetreten. Seit dem Tod des Präsidenten gibt es keine politische Gewalt vor Ort, die in der Lage wäre, das Land zu leiten und zu organisieren.
DOMRADIO.DE: Was passiert denn jetzt, nachdem der Interims-Premierminister zurückgetreten ist?
Jurado: Das ist eine gute Frage. Man müsste schauen, wer weiter vor Ort ist. Es scheint, dass es einen stellvertretenden Premierminister gibt. Michel Patrick Boisvert, der eine Verlängerung der nationalen Sperrstunde verkündet hat, die seit Montag 19:00 Uhr bis zum 14. März 5:00 Uhr morgens gilt. Der Ausnahmezustand ist weiterhin vom 7. März bis zum 3. April ausgesprochen.
Die Frage ist, ob Michel Patrick Boisvert in der Lage sein wird, das zu schaffen, was Henry nicht geschafft hat. Nämlich die Staatsgewalt so zu organisieren und die Sicherheitskräfte einzusetzen, damit man der Lage vor Ort Herr wird.
DOMRADIO.DE: Welche Auswirkungen hat diese Situation auf die Zivilbevölkerung?
Jurado: Neben der Sperrstunde ist es so, dass die Banden in Port-au-Prince das Sagen haben. Das bedeutet, dass es sehr gefährlich ist, auf die Straße zu gehen, weil man den Banden oder auch Lynch-Kommandos ausgesetzt ist, die sich mittlerweile gebildet haben.
Das heißt, die Bevölkerung ist nicht in der Lage, ihrem täglichen Leben normal nachzugehen. Mit täglichem Leben meine ich in diesem konkreten Fall von Haiti Lebensmittel besorgen, die Schule besuchen, einer Arbeit nachgehen, Wasser kaufen oder einen Arzt aufzusuchen. Das ist alles schon seit mehreren Monaten nicht möglich.
DOMRADIO.DE: Aber es gibt noch kirchlich intakte Strukturen und Pfarrgemeinden. Dadurch ist es nach wie vor möglich, für Adveniat Hilfsprojekte aufrechtzuerhalten.
Jurado: Ja, das ist die Hoffnung in diesem dunklen Land. In Port-au-Prince ist die Situation mehr als kritisch. Dort ist es nicht möglich, Projekte zu fördern.
Die lokale Kirche ist in den Pfarreien vor Ort immer noch da, weit verzweigt und über das Land verteilt. Von dort erhalten wir diverse Anfragen, um zum Beispiel Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, die älteren Bevölkerungsmitgliedern zu Teil werden sollen oder auch für die Schulspeisung in Schulen.
Wie erhalten auch Anfragen von Projekten zur Förderung von sauberem Trinkwasser und Osmoseanlagen oder den Bau von Zisternen sowie der Implementierung von kleinen Solaranlagen. Damit verfügen die Vereine über Strom und müssen diesen nicht teuer über Generatoren herstellen.
Das sind für mich Hoffnungsschimmer. Es gibt vor Ort noch Menschen, die das Gemeinwohl im Blick haben und die eine Perspektive auftun und Hilfe benötigen. Wir leisten die gerne auch mit Unterstützung unserer Spender, um den Menschen vor Ort zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden. Wenn die Initiative euch hilft, sind wir gerne bereit, euch dabei zu unterstützen.
DOMRADIO.DE: Das ist eine symptomatische Hilfe. Im Grunde benötigt Haiti wesentlich größere internationale Hilfe. Wie müsste die aussehen?
Jurado: Ich weiß keine Antwort. Leider ist es in der Vergangenheit so gewesen, dass eine internationale Einsatztruppe mehr Schaden angerichtet hat, als sie tatsächlich geholfen hat.
Ich glaube, das sitzt in der haitianischen Bevölkerung noch sehr tief verwurzelt im Gedenken. Auf der einen Seite gibt es Stimmen, die sagen, wir benötigen Hilfe aus dem Ausland, weil das Ausmaß des Chaos zu groß ist, um es selbst zu bewältigen. Vor allen Dingen sind auch korrupte Strukturen vor Ort, die das nicht zulassen würden.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch jede Menge Menschen, die sagen, dass Haiti sich selbst helfen muss. Ich persönlich denke, dass es tatsächlich notwendig sein wird, vom Ausland her eine Struktur mit aufzubauen. Das muss im Einvernehmen mit der haitianischen Bevölkerung geschehen. Aber ich denke nicht, dass das in der jetzigen Situation aus eigenen Mitteln heraus geleistet werden kann.
Das Interview führte Johannes Schröer.