NRW hilft beim Aufbau eines Veteranenzentrums in Dnipro

"Rehabilitation wird das Thema unserer Zukunft sein"

Seit der Annexion der Krim 2014 zählt die Ukraine 1,2 Millionen Kriegsveteranen. Prognosen zufolge könnte sich diese Zahl noch vervierfachen. Ein riesiges Problem, denn viele ehemaligen Soldaten sind auf Traumabewältigung angewiesen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Vielen ehemaligen Soldaten wie Denis Skaleukh (ganz rechts) fehlen Beine, Arme oder Hände. / © Privat
Vielen ehemaligen Soldaten wie Denis Skaleukh (ganz rechts) fehlen Beine, Arme oder Hände. / © Privat

Denis Skaleukh ist ein Baum von einem Mann: groß, kräftig, mit breiten Schultern und Vollbart. Im Internet kursieren viele Bilder von ihm, die ihn als Soldat zeigen. Dabei ist er eigentlich Marketingspezialist. Sichtlich stolz lächelt er auf den meisten Fotos in seiner Kampfuniform in die Kamera. Jedenfalls, bevor er im September 2023 in Saporischschja von einer russischen Drohne getroffen wird. 

Die Explosion, die sechs seiner Kameraden das Leben kostet und die übrigen 28 seiner Artillerie-Einheit zum Teil schwer verletzt, kam unerwartet. Die Truppe war in einem Hinterhalt unter Beschuss geraten. Trotzdem leisten die Soldaten lange Widerstand – so gut es eben in dieser Ausnahmesituation und trotz der erlittenen Verluste geht. Hilfe kommt erst nach zehn Stunden. Schließlich schleppt Oleksandr – der Freund von Denis Tochter, erst 20 Jahre alt und selbst verwundet – den schweren Mann sieben Kilometer weit aus dem umkämpften Gebiet und rettet ihm so das Leben.

Inzwischen ist Denis in anderer Mission unterwegs. Es mehren sich Videoclips auf Instagram, in denen er auf Ukrainisch und Englisch für die Unterstützung eines Veteranenzentrums in Dnipro wirbt und erklärt, was für dessen Aufbau noch dringend gebraucht wird. Vor allem natürlich finanzielle Mittel. Als Fundraiser unterwegs zu sein ist das, was ihm eine Perspektive schenkt. Denn der 39-Jährige hat den russischen Angriff zwar überlebt, aber sein rechtes Bein konnten die Ärzte nicht mehr retten. Ein Geschossfragment hatte die Knochen zertrümmert. 

Dass das auch ganz anders hätte ausgehen können, ist dem ehemaligen Soldat, der nun eine Unterschenkelprothese trägt, bewusst. Doch würde er das rechte Hosenbein nicht hochgekrempelt tragen, könnte man vielleicht nicht einmal bemerken, dass er Kriegsveteran ist. Denn Denis ist um Normalität bemüht – soweit das möglich ist, wenn man die unbarmherzige Brutalität des Krieges hautnah zu spüren bekommen hat und nichts mehr ist wie vorher. Aber dieses Schicksal teilt er nun mit zigtausenden Männern, die ihr Land in den letzten 1000 Tagen unter Einsatz ihres Lebens verteidigt und einen hohen Preis dafür bezahlt haben.

Nur mühsam in das alte Leben zurückfinden

Sechs Wochen hat Denis nach seinem Kampfeinsatz im Krankenhaus verbracht, danach lange Monate von Rehabilitationsmaßnahmen profitiert, die ihm nun wieder ein relativ selbständiges Leben ermöglichen. Trotzdem war für ihn in dieser Phase der Rekonvaleszenz, in der sich der Familienvater noch vom Krankenbett aus über die sozialen Medien mit anderen verletzten Veteranen austauscht, schnell klar, dass er sich nun auf der Opferseite engagieren will. 

Denn die Zahl derer, die mit ihrer Traumatisierung oder dem Verlust ihrer Beine und Arme zurechtkommen müssen und nur mühsam – wenn überhaupt – in ihr altes Leben zurückfinden, weil sie den Alltag nicht mehr alleine bewältigen, ist groß – wie die Gefahr, dass es mit jedem Tag Krieg immer noch mehr werden, die dauerhaft auf Therapien und Bewältigungsstrategien angewiesen sind. 

Denn schon jetzt ist klar: Beinahe jeder Veteran benötigt psychologische Hilfe bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Albträumen, Schuldgefühlen bzw. verschärftem Ungerechtigkeitsempfinden und vielem mehr. Auch soziale Isolierung ist ein Thema. Und erschreckende Statistiken belegen, dass die Selbstmordrate unter den Kriegsveteranen signifikant höher ist als in der zivilen Bevölkerung.

Veteranenzentrum ist Teil eines NRW-Förderprogramms

Einer, der von Anfang an von Deutschland – genau genommen von Brühl aus – auf diesen Krieg geschaut und sich bei der Ankunft erster ukrainischer Geflüchteter ehrenamtlich um den Aufbau eines lokalen Netzwerks gekümmert hat, ist Sascha Lehner. 

Inzwischen ist der IT-Experte, der mit einer Ukrainerin verheiratet ist, längst der maßgebliche Verbindungsmann an der Schnittstelle zwischen NRW-Landesregierung und der Oblast Dnipropetrowsk, wo gerade mit großer Unterstützung von Nordrhein-Westfalen ein Veteranenzentrum entsteht, das Teil des von Europaminister Nathanael Liminski initiierten Förderprogramms "Wiederaufbauprojekte NRW-Dnipropetrowsk" ist. 

Gemeinsam mit dem Blau-Gelben Kreuz aus Köln will sich die Stadt Brühl mit der Initiative "Wir in Europa" und "Brühl digital" hier beteiligen. So wollen die beiden Brühler Vereine unter anderem den Betrieb des Zentrums durch Bildungsmaßnahmen wie Online-Sprach- und IT-Kurse, aber auch Angebote, die der Arbeit von Selbsthilfegruppen vergleichbar sind, unterstützen, damit Veteranen wieder in ein ziviles Leben zurückkehren und trotz ihrer Verletzungen und amputierten Gliedmaßen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Eine Schlüsselrolle kommt auch hierbei Lehner zu, der zu beiden Seiten intensive Kontakte unterhält und unermüdlich als Vermittler tätig ist.

Veteranenzentrum in Dnipro dient als Prototyp

Die Unterstützung aus NRW und speziell aus Brühl könne nicht hoch genug geschätzt werden, betont Aliada Mansurova, die in Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, im Stadtrat sitzt, die NGO "to victory" gegründet hat und Mitte November zu der ukrainischen Delegation gehörte, die an der von Ministerpräsident Wüst ausgerichteten Ukraine-Konferenz in der Kölner Flora teilgenommen hat. 

Sie ist die Ideengeberin und Hauptorganisatorin des Veteranenzentrums. Denn, da sind sich Lehner und Mansurova einig, selbst fast drei Jahre nach Kriegsausbruch mit unüberschaubaren Zahlen von Versehrten und einem riesigen Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen gibt es eine solche Einrichtung als Anlaufstelle für psychologische Hilfe, soziale Reintegration oder auch juristischer Beratung noch nicht. Wenn dieses Zentrum aber erst einmal seinen Betrieb aufgenommen hat, könnte es als Prototyp für weitere Zentren dieser Art dienen. 

Denis Skaleukh

"Unsere Erfahrungen an der Front, im Einsatz für unser Land, schweißen uns zusammen. Nun müssen wir alle Kraft dafür einsetzen (…) auch ohne Beine und Arme vollwertiger Teil dieser Gesellschaft zu sein."

"Wir Veteranen werden viel zu wenig gefragt, was wir brauchen", findet Denis und will sich daher gezielt bei diesem Projekt einbringen. Es gehe um Solidarität mit den Männern, die aus dem Krieg kämen. Denn er betrachte sie als Brüder, sagt er. "Unsere Erfahrungen an der Front, im Einsatz für unser Land, schweißen uns zusammen. Nun müssen wir alle Kraft dafür einsetzen, Ideen zu entwickeln, um es mithilfe eines solchen Veteranenzentrums auch wieder aufzubauen und selbst ohne Beine und Arme vollwertiger Teil dieser Gesellschaft zu sein."

"Das Zentrum hilft Veteranen und ihren Familien, wieder zurück in den Alltag zu finden und sich eine Zukunft mit einem neuen Job aufzubauen", erklärt Aliada Mansurova, die nach zwei Kriegen in ihrem Heimatland Georgien vor einigen Jahren selbst als Geflüchtete in die Ukraine kam und daraufhin für die vielen ukrainischen Binnenflüchtlinge "to victory" ins Leben gerufen hat. 

Es sei höchste Zeit, sich um die Veteranen zu kümmern, wiederholt die 46-Jährige immer wieder. "Wir dürfen keine Zeit verlieren, denn täglich werden es mehr", betont die Projektleiterin, die – wie Sascha Lehner auf der deutschen Seite für die Landesregierung – die Ansprechpartnerin in Dnipropetrowsk ist. Leider gebe es noch viel zu wenige Initiativen für solche Zentren in der Ukraine, berichtet sie und auch, dass es hier um einen Lernprozess gehe, wie solche Einrichtungen überhaupt konzipiert sein müssten. 

Aliada Mansurova

"Wenn Veteranen nicht integriert werden, bleiben sie für sich, erleben zunehmend eine soziale Isolation und werden für dieses Land eine große Belastung."

Sie habe viele Verwandte und Bekannte, die gerade in diesem Moment kämpften oder ohne Beine aus dem Krieg zurückkämen, berichtet die Lokalpolitikerin, die das Thema Rehabilitation auf allen Ebenen voranbringen will. "Wenn wir nichts unternehmen, wird dieses Problem immer größer. Denn vom Umgang mit den Veteranen hängt die Zukunft unseres Landes ab", so Mansurova. 

Es müssten zunehmend Orte der Begegnung zwischen Zivilisten, Kriegsveteranen und ihren Familien geschaffen werden, an denen eine von den verheerenden Folgen des Krieges schwer gezeichnete Gesellschaft für eine große Zukunft neu zusammenwachsen könne. "Wenn Veteranen nicht integriert werden, bleiben sie für sich, erleben zunehmend eine soziale Isolation und werden für dieses Land eine große Belastung. Rehabilitation wird das Thema einer ganzen Generation und unserer gemeinsamen Zukunft sein", ist sie überzeugt. 

Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte

Der Krieg habe mit einem Mal für ganz neue Themen, wie zum Beispiel Barrierefreiheit, gesorgt, beobachtet sie. Nun gelte es, diese mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken und politisch darauf zu reagieren. Doch aus eigener Kraft, das weiß sie, ist das kaum zu stemmen. Dafür bedarf es starker Verbündeter wie Lehner, der Stadt Brühl und der NRW-Landesregierung, die schon jetzt in großem Stil die Förderung kommunaler und zivilgesellschaftlicher Projekte im Rahmen der Regionalpartnerschaft mit Dnipropetrowsk betreibt. 

Seit Begründung der Partnerschaft durch Ministerpräsident Wüst und Gouverneur Lysak im Februar 2023 unterstützt die Landesregierung die Oblast unter anderem mit Generatoren, Fahrzeugen und medizinischer Ausstattung. 

Das Veteranenzentrum, für das noch viel Spendenakquise nötig ist und dringend ehrenamtliche Mitarbeiter im Bereich der sozialen Rehabilitation gesucht werden, ist nur eine der zahlreichen Initiativen dieser Solidaritätspartnerschaft zwischen NRW und Dnipropetrowsk. Aber eine, die auch über das potenzielle Ende der Kämpfe hinaus gebraucht werden wird.

Christliche Kirchen in der Ukraine

Die kirchlichen Verhältnisse in der Ukraine sind komplex. Rund 70 Prozent der 45 Millionen Ukrainer bekennen sich zum orthodoxen Christentum. Sie gehören allerdings zwei verschiedenen Kirchen an: der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) des Moskauer Patriarchats und der autokephalen (eigenständigen) Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Zudem gibt es eine römisch-katholische Minderheit mit rund einer Million Mitgliedern sowie die mit Rom verbundene (unierte) griechisch-katholische Kirche der Ukraine.

Das Heilige Feuer aus Jerusalem am 18. April 2020 im Kiewer Höhlenkloster Petscherska Lawra, Hauptsitz der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats. / © Sergey Korovayny (KNA)
Das Heilige Feuer aus Jerusalem am 18. April 2020 im Kiewer Höhlenkloster Petscherska Lawra, Hauptsitz der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats. / © Sergey Korovayny ( KNA )
Quelle:
DR