Katholische Pfadfinder wollen Missbrauch aufarbeiten

"Das Dunkelfeld ist sehr groß"

Die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg ist der größte Pfadfinderverband in Deutschland. Die katholische Jugendorganisation will in einem neuen Projekt sexualisierte Gewalt in ihren Reihen aufarbeiten. Mit kirchlicher Unterstützung.

Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg / © Sebastian Humbek (DPSG)
Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg / © Sebastian Humbek ( DPSG )

DOMRADIO.DE: Bei der DPSG ist ein Projekt zur Aufarbeitung von Machtmissbrauch gestartet. Wieso ist das wichtig in dem Verband?

DPSG Bundesvorstand (v.l.n.r. Matthias Feldmann (Bundeskurat), Annkathrin Meyer (wiedergewählte Bundesvorsitzende), Joschka Hench (Bundesvorsitzender). / © Sebastian Boblist (DPSG)
DPSG Bundesvorstand (v.l.n.r. Matthias Feldmann (Bundeskurat), Annkathrin Meyer (wiedergewählte Bundesvorsitzende), Joschka Hench (Bundesvorsitzender). / © Sebastian Boblist ( DPSG )

Joschka Hench (Bundesvorsitzender der DPSG): Die DPSG als größter Pfadfinderverband in Deutschland hat das Ansinnen, ein Schutzraum für Kinder und Jugendliche zu sein und Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Dabei sind wir immer wieder gescheitert und wir scheitern in manchen Fällen auch aktuell immer wieder, weil viele Menschen bei uns im Verband sexualisierte und spirituelle Gewalt erfahren haben.

Wir wollen unsere Schutzkonzepte verbessern und dafür müssen wir die Strukturen, die solchen Missbrauch im Verband begünstigen, analysieren. Deshalb dieser Aufarbeitungsprozess.

DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Vorstellung davon, welche Strukturen das sind, die Missbrauch begünstigen?

Hench: Ich möchte der Forschung nicht vorweggreifen, aber es gibt zwei Bereiche, bei denen wir für wahrscheinlich halten, dass die Forschung sie als Problembereiche identifiziert. Zum einen arbeiten wir sehr intensiv mit den Kindern und Jugendlichen. Unsere Arbeit baut auf persönlichen Beziehungen, Vertrauen und dem Miteinander auf. Wenn sich Menschen erfolgreich Vertrauen erschleichen, bietet das natürlich auch die Möglichkeit das Vertrauen von Kindern, Jugendlichen und auch von Erwachsenen zu missbrauchen und Leid zu verursachen.

Der andere Aspekt: Wir haben Altersgefälle, wir haben Leiter, wir haben Vorstände. Wir haben de facto Hierarchien und Machtgefälle in unserem Verband. Wenn damit falsch umgegangen wird, kann auch das ein begünstigender Faktor sein. Daneben gibt es noch weitere Faktoren wie Föderalismus, die Missbrauch begünstigen können. Aber das sind zwei große Aspekte, die auch unsere Pfadfinderkultur auszeichnen.

DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Vorstellung, wie groß das Problem sein könnte? Zahlen, Daten, Fakten? 

Hench: Alle Schätzungen sind so vage, dass Sie nicht seriös wären. Dazu können wir keine Zahlen nennen. Seit 2008 sind uns auf der Bundesebene knapp 70 Fälle bekannt. Wir wissen aber auch, dass das eine sehr kleine Zahl ist. Das Dunkelfeld ist sehr groß. Die Forscher schauen sich den gesamten Zeitraum an, den es die DPSG gibt, seit 1929.

Alleine die Dokumentation der Fälle vor dem Zweiten Weltkrieg wird nahezu unmöglich sein. Deshalb halte ich vierstellige Zahlen für realistisch. Wir haben aktuell 83.000 Mitglieder. Seit 1929 sind einige Menschen durch unseren Verband gegangen und darunter waren wahrscheinlich leider auch schwarze Schafe, die unsere Verbandsstrukturen ausgenutzt haben. 

DOMRADIO.DE: Sie möchten bei diesem Aufarbeitungsprozess auch mit der katholischen Kirche zusammenarbeiten. Warum ist das wichtig für Sie? 

Hench: Die Bistümer können sehr stark helfen. Wir sind ein katholischer Verband und Teil der katholischen Kirche. Es gibt Mischkontexte, in denen Priester in Gemeinden und als Kuraten in unseren Stämmen aktiv waren. Die Bistümer können helfen, indem sie unserem Forschungsteam Akteneinsicht gewähren, in den Fällen, in denen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der katholischen Kirche Leid verursacht haben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kirchen strukturierter und besser aufgestellt sind als wir als ehrenamtlicher Verband, der erst mal Kinder- und Jugendarbeit machen will und nicht irgendwelche Archivarbeit, ist sehr viel höher als bei uns in den Strukturen. Da stehen wir im engen Austausch mit unserem Kontaktbischof Michael Gerber aus Fulda.

DOMRADIO.DE: Wie sieht es mit Anerkennungs- und Entschädigungszahlungen aus?

Hench: Auch darüber sind wir im Gespräch mit der katholischen Kirche, inwieweit es finanzielle Unterstützung bei den Aufarbeitungsprozessen geben kann. Für uns als Verband ist klar, dass solche Unterstützung nur ohne jegliche Einflussnahme und Mitgestaltungsrecht möglich ist. Wir haben nicht die Mittel, um Anerkennungs- und Entschädigungszahlungen zu leisten, wie sie momentan üblich sind. Wir sind eine Organisation, die sich vor allem über Mitgliedsbeiträge finanziert.

Natürlich können wir die Menschen, die bei uns und so auch in der katholischen Kirche Leid erfahren haben, auf die unabhängigen Kommissionen der Bistümer verweisen. Dann kommen allerdings neue Prüfungsprozesse, was auch eine erneute Belastung bedeuten. Uns geht es darum, die Belastungen so gering wie möglich zu halten.

DOMRADIO.DE: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der Kirche? 

Hench: Die Zusammenarbeit mit Bischof Gerber läuft sehr gut. Da gibt es ein großes Engagement. Wir hatten letztes Jahr große Diskussionen rund um die Interventionsordnung, wo wir auch mit dem Generalsekretariat intensiv im Austausch waren und jetzt eine einvernehmliche Lösung finden konnten. 

Es gibt allerdings Irritationen, warum wir überhaupt einen eigenen Aufarbeitungsprozess gestartet haben. Die sind für uns durchaus spürbar. Manche fragen sich, wieso uns nicht der Aufarbeitungsprozess vom BDKJ reicht, dem wir ja auch angegliedert sind. Wir erwarten durch unseren eigenen Aufarbeitungsprozess einfach präzisere Ergebnisse. Wir glauben, dass wenn wir unsere Verbandsstrukturen und unsere Kultur anschauen, bessere Präventions- und Schutzmaßnahmen gestalten können, als wenn das in dem größeren Verbund des BDKJ passiert.

Darüber hinaus haben wir von Anfang an versucht, bei uns im Aufarbeitungsbeirat Raum für die Perspektive der katholischen Kirche zu schaffen, was für unseren Aufarbeitungsprozess sehr hilfreich sein kann. Aber leider ist die Position der katholischen Kirche die einzige, die noch nie besetzt war.

DOMRADIO.DE: Was soll am Ende dieses Forschungsprozesses stehen? 

Hench: Es gibt viele Ziele. Unter anderem wollen wir die Täter zur Verantwortung ziehen und die Potenziale für Missbrauch erkennen. Wir wollen diese Tabuisierung und das Schweigen durchbrechen und beenden. Es geht darum, eine angemessene Form der Erinnerungskultur zu schaffen und nicht rückblickend irgendwas unter den Teppich zu kehren, sondern den Kinder- und Jugendschutz von morgen zu gestalten. Wir wollen das Pfadfindern von Morgen sicherer machen. 

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Quelle:
DR