Der Pariser Norden hat eine bleischwere Arbeitervergangenheit, seit die Stadt im 19. Jahrhundert die stinkenden Schlote der Industrialisierung aus dem Zentrum hinausbeförderte.
In Saint-Denis liegt das "Stade de France", das größte Stadion Frankreichs und 2015 Schauplatz eines islamistischen Terroranschlags. Die Vorstadt ist zu quasi 100 Prozent zubetoniert. Trabantensiedlungen, Tristesse, Kriminalität, sozialer Brennpunkt - aber auch die Wiege der französischen Gotik und Bestattungsort von Dutzenden Königen Frankreichs. Ein teures Bauprojekt soll demnächst endlich mehr Touristen anziehen.
Seit den 1970er Jahren wird über Wiederaufbau diskutiert
1847 war der mittelalterliche Nordturm der frühgotischen Basilika von Saint-Denis, lange Zeit der höchste der Region, wegen Einsturzgefahr "vorübergehend" abgetragen und dann nicht erneuert worden. Seit den 1970er Jahren schon wird über seinen Wiederaufbau diskutiert. Das Gebäude müsse sein ursprüngliches und würdiges Gesicht zurückerhalten, sagen die Befürworter.
Doch auch die Kritik daran will nicht verstummen. Gegner warnen vor einer Verschandelung und berufen sich auf die Denkmalpfleger-"Charta von Venedig". Darin heißt es, dass historische Bauten nicht willkürlich oder auf aufgrund von Vermutungen verändert werden dürften.
Dennoch hat der sozialistische Bürgermeister Mathieu Hanotin nun den Startschuss der Arbeiten für Oktober und damit einen "tiefgreifenden Wandel unserer Heimat" angekündigt.
Seit 2027 gibt es Grünes Licht für das Projekt
Bereits 2017 hatte der französische Staat als Besitzer des Gebäudes Grünes Licht für das Projekt des Bürgermeisteramtes gegeben. Es will damit endlich mehr Touristen anziehen, das Image der verrufenen Banlieue verbessern und die Stadtentwicklung fördern. Denn obwohl die Basilika sogar mit der Pariser Metro erreichbar ist, kommen pro Jahr gerade mal gut 100.000 Besucher.
Auch die Finanzierung des Wiederaufbaus steht weitgehend. Die frühere Abteikirche profitierte sogar von den erfolgreichen internationalen Spendenkampagnen für die beim großen Brand von 2019 schwer beschädigte Pariser Kathedrale Notre-Dame.
Zum Jahreswechsel 2020/21 bewilligten die sieben Departements der Ile-de-France 20 Millionen Euro: vor der Brandkatastrophe beschlossene, aber umgewidmete Gelder zur Restaurierung von Notre-Dame, die wegen der riesigen internationalen Spenden nach dem Brand vorerst nicht benötigt wurden. So kam nun Saint-Denis zum Zug.
Die eigentliche Finanzierungsidee wurde dadurch obsolet. Ab 2020 sollten eigentlich zunächst ein Handwerkerdorf und ein Aussichtsturm errichtet werden. So hätten zahlende Besucher beobachten können, wie ein Turm im Mittelalter gebaut wurde - nämlich komplett per Hand. Die Einnahmen, so der Plan, hätten öffentliche Zuschüsse unnötig gemacht, ähnlich wie bei der Sagrada Familia in Barcelona, nur eben mittelalterlich.
Es fehlen noch 3,5 bis 5 Millionen Euro
Von den insgesamt veranschlagten 37 Millionen Euro fehlten noch lediglich 3,5 bis 5 Millionen, so Bürgermeister Hanotin. Er setzt dafür auf private Großspender, eine breit angelegte Spendenkampagne und Eintrittsgelder für ein Museum der Baugeschichte, das für die auf fünf Jahre angelegten Arbeiten eröffnet werden soll.
Dass die Corona-Pandemie und die Änderungen im ursprünglichen Konzept den Beginn der Arbeiten verzögerten, nutzten 2021 insgesamt 128 Experten - Historiker, Archäologen, Kuratoren etc. -, um noch einmal das gesamte Wiederaufbauprojekt infrage zu stellen. Man sei alarmiert über mögliche Beschädigungen der Bausubstanz und des Gesamtcharakters der Basilika.
So könnte etwa ein Friedhof des Hochmittelalters, einschließlich der Grabkammer von Frankenkönig Pippin dem Kurzen (751-768), dem Vater Karls des Großen, teilweise oder völlig zerstört werden, so eine der Befürchtungen. Weitere Einwände waren die geplante Einspritzung von Fugenmörtel in mittelalterliches Mauerwerk sowie der Einbau von Metallankern, "die eine der ersten Fassaden der Gotik verzerren, die zudem gerade erst restauriert wurde".
Chefarchitekt werfen den Kritikern Fehlurteile und Unkenntnis vor
Chefarchitekt Jacques Moulin und Julien de Saint Jores, Vorsitzender des Vereins "Suivez la Fleche" (Folge dem Pfeil = Turmspitze), warfen den Kritikern im Gegenzug Fehlurteile und Unkenntnis der Projektakten vor.
Man rühre den vermeintlichen Bestattungsort von Pippin dem Kurzen überhaupt nicht an. An dem Teil, an dem tatsächlich Arbeiten geplant sind, fänden vorab Sicherungsgrabungen gemäß allen gesetzlichen Bestimmungen statt.
Bei den Metallankern zur Stabilisierung des Turms handele es sich um eine "banale, wirtschaftliche, effektive und vor allem reversible Maßnahme, wie sie in der Denkmalpflege üblich" sei. Sie sei in keiner Weise an der Fassade sichtbar.
Wiederaufbau des Turms im Zustand von 1847
Auch der Einsatz von Kalk und Beton diene allein der Stabilisierung des Turms. Am meisten irritiert die Projektleiter der Vorwurf, man wolle einen pseudomittelalterlichen Fantasieentwurf realisieren. Es gehe seit jeher um den Wiederaufbau des Turms im Zustand von 1847. Allein 15.228 Steine müssen dafür geschnitten werden.
Auch unter den Anwohnern des sozialen Brennpunktes Saint-Denis sind die Meinungen sehr geteilt. Während die einen argumentieren, es gebe genügend anderes zu tun, etwa für Jugend und Sozialprojekte, meinen andere, mehr sichtbare Attraktivität des Stadtteils bringe auch mehr Touristen - und damit mehr Einnahmen vor Ort.