KNA: Herr Kovacs, wegen der Corona-Pandemie sind aus einem Festjahr eineinhalb Jahre geworden. Wie viele Veranstaltungen waren es am Ende?
Andrei Kovacs (Leitender Geschäftsführer des Vereins "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland"): Wir hatten über 2.400 Veranstaltungen in unserem Kalender. Hinzu kamen viele weitere Beiträge bundesweit. Auch das Auswärtige Amt hat sich mit über 23 Auslandsvertretungen beteiligt: in Argentinien, Panama oder Rumänien. Wir waren überwältigt. Anfangs hatten wir mit 1.000 Veranstaltungen geplant, wir sind für die große Beteiligung und Unterstützung unendlich dankbar.
KNA: Zu den prominenten Veranstaltungen gehörte "Sukkot XXL" zum Laubhüttenfest im Herbst und die Kulturreihe "Mentsh!". Wie sind beide angenommen worden?
Kovacs: Mit "Sukkot XXL" wollten wir ein jüdisches Fest möglichst vielen Menschen näherbringen und gemeinsam feiern, essen, trinken, miteinander diskutieren. Jüdische und nichtjüdische Menschen sollten nicht nur gemeinsam weinen, sondern auch gemeinsam glückliche Momente erleben. Die Aktion war, denke ich, ein großer Erfolg. Es gab Laubhütten in 13 Bundesländern, viele Gemeinden in ganz Deutschland haben sich beteiligt. Wir haben auch Laubhütten-Bausätze produziert: mit einer Video-Anleitung, in der ein Rabbiner erklärt, wie man die Sukka baut. Es gab auch Preise: Das Berliner Waldgymnasium wurde beispielsweise für die coolste Sukka Deutschlands ausgezeichnet.
KNA: Und "Mentsh"?
Kovacs: Wir hatten Glück im Unglück: Wegen Corona mussten viele Veranstaltungen digital laufen und sind dadurch jetzt noch zugänglich. Wir hatten zum Beispiel Kochshows mit Musikbeiträgen - bekanntlich geht Liebe ja durch den Magen, im jüdischen Leben spielt das Essen eine wichtige Rolle. So konnten wir die Vielfalt der jüdischen Küchen zeigen.
KNA: Daneben gab es bundesweit auch viele kleine Veranstaltungen.
Kovacs: Ja, Bildungs-, Musik- und Sportveranstaltungen, ein Musical für Kinder, Ausstellungen oder das Thema Juden in der DDR, um nur einige zu nennen.
KNA: Welche Rückmeldungen haben Sie bekommen?
Kovacs: Die Vorsitzende einer jüdischen Gemeinde hat mir einmal gesagt, es sei das erste Mal seit 77 Jahren, dass sich ihre Gemeinde mit einer Feier auch in den öffentlichen Raum getraut habe. Ähnliche Reaktionen haben wir auch anderswo gehört. Das ist ein fantastisches Feedback, denn bisher herrschen auch bei jüdischen Menschen oft berechtigterweise oft Vorsicht, Misstrauen und Ängste. Und Nichtjuden haben den Mut gefasst, an jüdische Gemeinden heranzutreten. Ich hoffe, dass dadurch neue Netzwerke entstanden sind, die auch künftig weiterbestehen.
KNA: Im Zusammenhang mit dem Festjahr gab es auch kritische Stimmen.
Kovacs: Zum Beispiel wurden wir dafür kritisiert, dass wir nicht alle Menschen in Deutschland erreicht haben und dass wir den Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen konnten. Aber da muss man auch immer über Erwartungshaltungen sprechen: Judenhass ist über 1.700 Jahre alt und konnte bis heute nicht wirksam bekämpft werden. Es wäre also überheblich zu behaupten, dass wir diesen Kampf durch ein Festjahr gewinnen können.
KNA: Worum ging es noch?
Kovacs: Es wurde die Sorge geäußert, dass wir als gesamtgesellschaftlicher Verein mit Juden und Nichtjuden jüdisches Leben zu sehr aus einer nichtjüdischen Perspektive betrachten. Dass wir einen Geburtstag feiern ohne das Geburtstagskind. Das war natürlich eine große Herausforderung. Man darf aber nicht vergessen, dass der Anteil der Juden in unserer Gesellschaft bei etwa 0,2 Prozent liegt. Die Bekämpfung von Antisemitismus und Verschwörungsmythen ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
KNA: Welche Bedeutung hatte es, dass der Verein "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" aus Juden und Nichtjuden bestand?
Kovacs: Wir haben gesehen, wie gut wir miteinander arbeiten können. Anders wäre eine Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland gar nicht vorstellbar, und auch keine plurale und demokratische, auf Respekt beruhende Gesellschaft.
KNA: Es gab auch Leute, die kritisiert haben, dass es gar keine 1.700-jährige Kontinuität jüdischen Lebens in Deutschland gegeben habe angesichts von Pogromen und der Schoah.
Kovacs: Das ist uns allen jederzeit bewusst gewesen, und wir haben es natürlich auch nicht ausgeklammert. Wir haben kein "Jubeljahr" gefeiert, sondern ein Festjahr. Und wenn man genau hinschaut, war es nicht ein Fest der Vergangenheit, sondern wir haben vor allem jüdisches Leben heute gefeiert. Denn dass es dieses in Deutschland trotz der Schoah gibt, ist ein Grund zum Feiern.
KNA: Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?
Kovacs: Ich glaube, wir haben viel erreicht, und ich hoffe, dass auch künftig die jüdische Perspektive bei unterschiedlichen Themen stärker eingenommen wird, denn die Geschichte wird durchaus gemeinsam mit Jüdinnen und Juden geschrieben. Es gab auch die Sorge, dass eine positive Darstellung jüdischen Lebens zu einem Verblassen der Gedenk- und Erinnerungskultur führen könnte. Das sehen wir nicht. Aber es gibt eben auch den Wunsch vieler junger Jüdinnen und Juden, die sich nicht mehr ausschließlich auf eine Opfergeschichte reduzieren lassen möchten. Sie möchten als selbstverständlicher und gleichwertiger Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen werden.
KNA: Was haben Sie zum Festjahr von Juden gehört?
Kovacs: Aus der jüdischen Community kamen größtenteils sehr positive Stimmen, die gesagt haben, dass wir dazu beigetragen haben, ein neues selbstbewusstes und postmigrantisch geprägtes jüdisches Leben zu zeigen. Und das braucht man für eine gemeinsame Zukunft.
KNA: Das Festjahr sollte jüdisches Leben sichtbarer machen und Vorurteile durch Begegnungen abbauen. Haben Sie das erreicht?
Kovacs: Wir haben jüdisches Leben sichtbarer gemacht und Räume für Begegnungen geöffnet. Wie erfolgreich wir das getan haben, müssen später andere bewerten. Aber in den Medien haben sich neue Formate gebildet. Zum Beispiel die erste jüdische Late-Night-Show "Freitagnacht Jews" - ein mutiges Format, das es so vor einigen Jahren wohl nicht gegeben hätte. Ich glaube, wir befinden uns sowieso in einer Zeit des Paradigmenwechsels, in der ein neues jüdisches Selbstverständnis entsteht und das Zusammenleben neu verhandelt wird. Wir entdecken gerade ein neues Verhältnis zueinander.
KNA: Gibt es Formate, die über das Ende des Festjahres hinaus fortgesetzt werden?
Kovacs: Ja, zum Beispiel Bildungsinitiativen, die auch Schulen gerne annehmen, Ausstellungen, Kochevents oder ein Musikfestival.
Das Interview führte Leticia Witte.