Die Erinnerung lässt ihn nicht los: «Tagsüber denke ich an etwas anderes, meistens an irgendwelche Lieder. Aber wenn ich nachts davon träume und aufwache, ist an Schlaf nicht mehr zu denken.» Der Pole Eugeniusz Sliwinski (85) war als junger Mann im Konzentrationslager Mauthausen.
Gerade das Nachkriegs-Deutschland war im Verdrängen Spitze, erklärt die Therapeutin Maria Böttche: Vertreibung, Ausbombung, Vergewaltigung, Trennung von Eltern, Tod von Familienmitgliedern. Alles Dinge, für die «man sich» geschämt hat als Deutscher. Maria Böttche ist am Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer für Menschen zuständig, die vom Krieg traumatisiert sind. Dinge aus der Kindheit fallen im Alter oft zufällig wieder ein. Es reicht ein bestimmter Geruch oder Geräusch, «eine Frau hat das Klickern beim Hörtest an ein Maschinengewehr erinnert, dann war alles wieder da», erzählt sie.
Schuldgefühle, überlebt zu haben
Schlaflosigkeit, Magen- und Herzbeschwerden, Angstzustände und plötzliches Erschrecken häufen sich. Und immer wieder die Schuldgefühle, überlebt zu haben. Jahrzehntelang war das eigene Leids nur im Familien- und Freundeskreis ein Thema, weiß Böttche: «Weil die anderen es schlimmer hatten, weil wir den Krieg begonnen haben». Ältere Leute sähen generell ein Problem darin, Hilfe von Therapeuten zu suchen, zumal diese altersmäßig ihre Kinder oder Enkel sein könnten.
Deshalb setzt das Behandlungszentrum auf Brief- und E-Mail-Therapie für Kriegskinder. Im virtuellen Gespräch mit der Psychologin fällt die Erinnerung leichter. Sie legt Wert darauf, dass sich nur ein kleiner Teil der Dialoge mit dem Trauma selber befasst. Der Großteil des Gesprächs soll sich um das weitere Leben der Patienten drehen, erklärt Böttche: «Wenn das Trauma wiederkommt, konzentrieren sich viele nur auf das Negative. Wir versuchen ihnen wieder zu zeigen, dass sie Familien gegründet und auch Freuden erlebt haben.» Seit über einem Jahr läuft das Projekt «Lebenstagebuch», und die Therapeutin berichtet von ersten positiven Ergebnissen: Vielen habe die Behandlung Stärke gegeben, bei manchen sind die Symptome ganz verschwunden. Auch haben viele laut Böttche die Therapie zu ersten Gesprächen mit den Kindern und Enkeln genutzt.
Opfer auf allen Seiten
Erst seit einigen Jahren ist es kein Tabu mehr, dass auch die Kriegs-Leiden der Deutschen öffentlich thematisiert werden. Der 2005 gegründete Verein «Kriegskinder für den Frieden» kümmert sich darum. Dessen Vorsitzender Curt Hondrich sagt, dass sich die Deutschen zwar nicht zum Opfer machen sollten, dass aber die Traumatisierten nun mal da seien. In anderen Ländern Europas auch.
Eine Studie der Universitäten Leipzig und Zürich aus dem vergangenen Jahr belegt, dass jeder 20. Deutsche an traumatischen Belastungsstörungen leidet. «Die PTBS ist dabei den 60- bis 95-Jährigen dreimal so häufig wie bei den jüngeren Altersgruppen», erklärt der Leipziger Psychologe Elmar Brähler. Anders sehe es in den USA, Australien und Mexiko aus. Dort seien die Spät-Traumata gerade bei der älteren Generation weniger verbreitet.
Dabei geht jeder Mensch mit seinen Erfahrungen anders um. Der KZ-Überlebende Sliwinski hat auf Anraten seines Psychologen immer ein Lied auf den Lippen. Er erlebt die Misshandlungen, Beschimpfungen und den Hunger jedes mal neu, wenn er Schülern seine Geschichte erzählt. Andere können und wollen sich nicht einmal die vielen Dokumentationen anschauen, die jetzt an den Gedenktagen zu sehen sind. Wieder andere saugen eben jene Filmdokumente förmlich auf, erzählt Therapeutin Böttche. Es kommt eben alles wieder hoch, wenn mehr Zeit ist und sich im Alter die Gedanken nicht mehr so kontrollieren lassen.
Europas Kriegskinder sind nach 70 Jahren noch traumatisiert
Im Alter kommt die Erinnerung wieder hoch
Der Zweite Weltkrieg hat vor 70 Jahren begonnen, und überall in Europa leben noch Menschen, die ihn durchlitten haben - ob als Soldat, als Verfolgter oder als Kind, das sich in Kellern vor den Bomben schützen musste. Viele haben später ein normales Leben geführt, bis die Kinder aus dem Haus waren. Dann kamen Ängste und Schuldgefühle. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) nennt man das.
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