Bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Kloster Reute am 13. April 2007

Predigt von Joachim Kardinal Meisner

 (DR)

Liebe Brüder, liebe Schwestern!

„Das Grab ist leer", heißt die österliche Botschaft, die bis heute um die Welt geht. Aber wo ist der Inhalt des Grabes? Er ist dort, von wo aus er ins Grab gekommen ist, nämlich im Himmel. Christus ist vom Vater gekommen, und er ist zum Vater gegangen. Das Grab ist leer, und der Himmel ist erfüllt vom österlichen Herrn. Ganz folgerichtig sagt der Apostel Paulus: „Strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische!" (Kol 3,1 2). Der Herr gibt uns selbst in der Vaterunser-Bitte „wie im Himmel, so auf Erden" die Anweisung zu einem österlichen Lebensstil.

1. „Wie im Himmel, so auf Erden", das ist eine Kurzformel unseres Osterglaubens und eine Anweisung zur österlichen Praxis. Dabei ist für uns zu beachten, dass dieses Wort aus dem Herrengebet nicht heißt: „Wie auf Erden, so im Himmel". Nicht die Erde ist Norm für den Himmel, nicht der Mensch für Gott, sondern umgekehrt: „Wie im Himmel, so auf Erden". Der Himmel ist für uns auf der Erde normativ. Er ist nicht nur der Raum der Luftkorridore und Lufthoheiten, sondern er ist der Ort der bleibenden Gegenwart des österlichen Herrn. „Wie im Himmel, so auf Erden" heißt dann, dass auch die Erde für uns Raum zur lebendigen Osterbegegnung mit dem Auferstandenen werden kann und werden soll. Denn ein Glaube ohne persönliche Gotteserfahrung führt beim Menschen zu einer Bewusstseinsspaltung, zu einer Art doppelten geistigen Buchführung, bei der er sich gleichsam in der Kirche zum Glauben zwingt, jedoch gehen in seinem Labor oder Büro seine Gedanken dann wieder in eine ganz andere Richtung. Wenn ein Mensch seinen Weg mit der Kirche Christi geht, wird er konsequenterweise den persönlichen Kontakt mit dem Gott des Himmels hier auf der Erde suchen, und er wird ihn finden dürfen. Ein Glaube, der zur persönlichen Erfahrung geworden ist, wird allen Herausforderungen der Welt gewachsen sein - komme, was da kommen mag!

Unser deutsches Vaterland und darüber hinaus Europa brauchen in dieser geschichtlichen Stunde nicht unwissende Halbheiden, aber auch keine hausbackenen Mystiker, die den zweiten Schritt vor den ersten setzen. Heute sind Christen gefragt, Frauen, Männer und Jugendliche, die geistmächtig in den zweitausendjährigen Gebetsschatz der Kirche eingeführt sind, in dem sich eine immense spirituelle Energie zur Weltgestaltung verbirgt. Die Jünger Jesu leben nicht auf den Hausdächern der Menschen, sondern mitten unter ihnen. Christen sind keine „Hans-guck-in-die-Luft"-Existenzen, sondern sie stehen mit beiden Beinen auf unserer geplagten Erde. Ihr Blick aber ist ausgerichtet auf den Himmel, wohin uns der österliche Herr vorausgegangen ist.

Der christliche Glaube will mit der Lebenssituation der Menschen vor Ort identisch werden. Es gibt theoretisch keinen Unterschied zwischen dem Osterglauben und dem konkreten Leben, das er erfüllt. Das ewige Wort Gottes ist doch Mensch geworden. Der Himmel ist gleichsam zur Erde geworden. Nicht der Rückzug aus der konkreten Mitwelt, sondern der Aufbruch in sie hinein, das steht über Ostern: „Wie im Himmel, so auf Erden". Dann erscheint die Welt nicht mehr gottlos und unser Gott nicht weltlos. Der österliche Herr trägt im Himmel die auf der Erde erhaltenen Wundmale weiter. Die Erde ist darum nicht mehr Erde ohne Himmel, und der Himmel ist nicht mehr Himmel ohne Erde.

2. Menschen erfüllt von diesem Osterglauben, sind die Platzhalter des Himmels auf dieser Erde, und zwar um der Erde willen. Denn in einer Gesellschaft, in der keine Transzendenz mehr möglich ist, weil der Himmel abgeschafft wurde, in der es also keinen Überstieg über sich selbst mehr gibt, dort ist der Ausstieg schon immer vorprogrammiert: in das Reich der Droge und in das Reich der vielen anderen Illusionen. Wo der Himmel schwindet, wird die Welt zu eng. Der Mensch lässt sich nicht auf ein Gatterdasein reduzieren. Der Mensch braucht Höhe. - Nein, er braucht den Allerhöchsten! Der Mensch braucht Horizonte. - Nein er braucht den Himmel! Die Erde ohne Himmel ist hoffnungslos überfordert und tödlich gefährdet. Der Mensch beginnt dann seinen Ewigkeitshunger an der Welt und ihren Gütern zu stillen. Er verzehrt dabei die Ressourcen der Welt und wird davon doch nicht satt. Die Ökologie hängt letztlich an der Theologie. Der heute so notwendig gewordene Klimaschutz hat etwas mit unserem Glauben zu tun. Das Überleben der Erde hängt vom Dasein des Himmels ab. Nachdem Heinrich Heine den Himmel großzügig den Engeln und den Spatzen zugewiesen hat, ist unsere arme Erde ein Opfer des menschlichen Unendlichkeitshungers geworden. Die biblische Kurzformel für ein gelungenes menschliches Dasein in einer gesunden Umwelt heißt: „Wie im Himmel, so auf Erden". Man muss den Himmel den Menschen wiedergeben, dann bleibt die Erde Lebensraum für den Menschen und auch für die frechen Spatzen.

Früher knieten wir immer nieder, wenn wir in der heiligen Liturgie beim Glaubensbekenntnis sprachen: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt". Indem wir so dabei auch körperlich auf intensive Erdberührung gegangen sind, haben wir glaubwürdig den Himmel mit der Erde in Verbindung gebracht. Gott ist Mensch geworden. Der Himmel hat die Erde berührt. Und in seiner Auferstehung ist er in seiner Menschlichkeit in den Himmel zurückgegangen, d. h. er hat die Erde mit in den Himmel genommen. Darum kann es mit unserer armen Erde trotz allem nicht mehr schlecht ausgehen.

3. Unser Glaube an den Osterhimmel wird zur Steigerung und Ermächtigung des persönlichen Menschen. Er gibt ihm die Befähigung, selbstständig zu sein und sich seine Lebenskonzepte nicht allein von der Erde und von den Menschen verordnen zu lassen, sondern gerade auch vom Himmel her, von Gott her, von seiner Auferstehung her, Urteil, Wertung und Kraft zur Entscheidung mitzubringen und durchzutragen. Einen solchen Menschen könnte man ruhig durch Versprechungen und Angebote locken und ködern. Ihm werden diese Versuche nichts anhaben, weil ein Punkt in ihm ist, der nicht zu ködern und zu kaufen ist: dort, wo der Auferstandene seinen Heiligen Geist in den Menschen hinterlegt hat gemäß dem Wort des Apostels Paulus: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist?" (1 Kor 6,19). Solche Menschen schreckt auch keine Drohung von außen, weil sie sich durch die Gabe der Tapferkeit in der Mitte ihres Lebens vom starken Arm Gottes getragen wissen. Solche Standfestigkeit macht freilich mitunter einsam, sehr einsam.

Denn manche Leute, auch in der Kirche, haben nichts Eiligeres zu tun, als sich jedem Trend zu beugen. Sie haben nicht Augen genug, um alle neuen Tendenzen zu erspähen, und nicht Füße genug, um sich schnell genug zu drehen und zu wenden, um jedem Windhauch und jedem Luftzug gerecht zu werden. „Wendehälse" nannte man solche Typen. Sie gibt es überall, in Deutschland und in Europa, in Kirche und Gesellschaft. Wenn eine Welt sich so dreht, müssen die als Narren erscheinen, die nicht jeden Dreh mitmachen. Solche Typen, solche Menschen, sind in der kirchlichen Gegenwart sehr gefragt. Das ist die Last des Tapferen, die Probe auf unser Christsein, auf die Reife und Kraft unseres Osterglaubens. Solche Christen sind heute besonders in Europa gefragt. Das müsste die differentia specifica, das unterscheidende Merkmal, eines Christen von anderen Menschen sein. Wir brauchen solche Ostermenschen, die den Mut haben, der das Unmögliche erhofft, und inzwischen das Mögliche beginnt; Ostermenschen die Aufgaben angehen, die ganz sicher die Spanne ihres eigenen Lebens weit überschreiten werden und die von ihrem Lebenswerk einmal sagen können: „Es war ein kleiner Beitrag nur, aber er hat sich gelohnt, denn er bekommt seinen Sinn von Gott und nicht von den Menschen her, vom Himmel und nicht von der Erde her". So haben etwa 20 Generationen gut 600 Jahre am Kölner Dom gebaut. Wir sind heute noch nicht ganz fertig damit!

Ein gläubiger Christ braucht die Welt nicht zu verändern, sondern nur das Stückchen Erde, auf dem er steht. Ein Mensch, der an die Auferstehung Christi glaubt, braucht die Menschheit nicht zu retten, aber er darf den nicht im Stich lassen, den er retten kann, und wenn es nur ein einziger ist. Der Christ braucht die alte Welt nicht zu zerstören, um eine neue zu bauen. Er braucht nur dort anzufangen, wo Platz für etwas Neues ist. Hand aufs Herz! - Ob das nicht viel revolutionärer und für die Menschen befreiender ist als große Programme und kluge Strategien?

Die Heiligen Gottes, die an der Wiege Europas standen, waren solche Ostermenschen, die sich für einen Schritt vorwärts einsetzen konnten, den sie sahen und ihr ganzes Leben daran verschwendeten, weil sie an die große Geduld Gottes mit der Erde glaubten, weil sie um den langen österlichen Atem des Herrn wussten.

Unsere heutige Generation von Christen ist als Zeuge der Auferstehung in die Welt gesandt, um mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, aber zum Himmel über unserem Land empor zu blicken. Wir müssen uns erneut sagen lassen: Aller wirklicher Weltdienst speist sich aus dem Gottesdienst. Wirkliche Kultur hat den Kultus zur Quelle. Das Grab ist leer, der Himmel ist erfüllt. Darum: „Wie im Himmel, so auf Erden". Amen.