Immer mehr Fälle werden aufgedeckt

Täglich ein Notruf

Vernachlässigte Kinder in verwahrlosten Wohnungen sorgen tagelang für Schlagzeilen. Und immer wieder werden dann Forderungen nach Konsequenzen laut. Experten beklagen angesichts einer "signifikanten Zunahme" von Kindesvernachlässigung, dass es bislang Kindernot-Telefone nur in Hamburg, Berlin und nach dem Fall der verhungerten fünfjährigen Lea-Sophie in Schwerin seit kurzem auch in Mecklenburg-Vorpommern gibt.

 (DR)

Ein Jahr nach Gründung der Berliner Hotline Kinderschutz wird eine Ausweitung des Hilfsangebots auf das gesamte Bundesgebiet empfohlen. Vergleichbare Angebote sollten deutschlandweit organisiert werden, sagte Sprecherin Beate Köhne. Die Berliner Hotline habe bislang fast 40 Anrufe aus dem Bundesgebiet erhalten.

Auch der bundesweit agierende Verein Deutsche Kinderhilfe Direkt hofft, dass anderenorts solche Ansprechstellen entstehen. Die Hotlines seien "äußerst wichtig", sagte der Vorsitzende Georg Ehrmann. Die Erfahrungen zeigten, dass die von Kritikern "befürchtete Gefahr von Blockwartmentalität und Denunziantentum völlig abwegig" sei. Viele Menschen trauten sich bei Beobachtungen nicht, Polizei oder Jugendämter zu informieren. "Mit den Nummern sinkt die Hemmschwelle des Anrufens - Verwandte, Nachbarn und selbst überforderte Eltern fordern so Hilfe ein", weiß Ehrmann.

Verwarlosung und Misshandlung
Seit dem 2. Mai 2007 arbeitet die Berliner Einrichtung. Seitdem hätten sich rund 970 Anrufer gemeldet. "Insgesamt ging es dabei um das Wohl von 1386 Kindern", berichtete Köhne. Ein Drittel der Anrufer hatte den Verdacht, dass eine Vernachlässigung oder Verwahrlosung vorliegt. "Der zweithäufigste Grund ist die Sorge um eine mögliche Misshandlung", sagte sie. Zumeist nutzten Nachbarn das Telefon. Auch Verwandte, Freunde, Ärzte, Lehrer oder Kindergärtner seien unter den Anrufern.

Ehrmann warnte jedoch, "mit einer Hotline allein werden keine Probleme gelöst, da fängt die Arbeit in den Jugendämtern erst an." In den Kommunen sei eine "gut besetzte und funktionierende Kinder- und Jugendhilfe notwendig, die schnell eingreifen kann". Jüngste Fälle belegten, bereits mit der Geburt müsse das Jugendhilfesystem greifen. Oft hätte ein Abgleich mit den bestehenden Akten ausgereicht, um eine Familienhilfe zwingend zu bewilligen, sagte Ehrmann.

Über die seit Februar geschaltete Hotline in Mecklenburg-Vorpommern gingen mehr als 120 Hinweise ein. Darunter waren nach Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales auch akute Fälle. Rein rechnerisch komme jeden Tag mindestens ein Anruf, das sei ein Hinweis darauf, dass die kostenfreie Telefonnummer als zusätzliches Angebot gut angenommen werde, sagte eine Landamtssprecherin. Die Jugendämter wurden den Angaben zufolge auch auf etliche Kinderschicksale aufmerksam, die den Behörden bislang nicht bekannt waren. Jeder zweite Anruf kam nachts oder am Wochenende. Etwa die Hälfte der Anrufer machte von der Möglichkeit Gebrauch, anonym Hinweise zu geben.

Immer öfter wird Rat gebraucht
Die meisten Erfahrungen mit einer Kinderschutz-Hotline gibt es in Hamburg. Seit zweieinhalb Jahren klingeln dort die Telefone mehrmals täglich. "Viele Bürger rufen an und wollen wissen, wie sie sich verhalten sollen", sagte die Sprecherin des Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung, Bettina Bormann. Nach Fällen wie dem der verhungerten Jessica sei die Sensibilität merklich gestiegen.

Im Durchschnitt verzeichnen die Mitarbeiter der rund um die Uhr besetzten Hotline rund 75 Anrufe pro Monat. Im März klingelten die Apparate gut 70 Mal. In den ersten Monaten der Hotline zog jeder zweite Anruf entweder eine sofortige Überprüfung durch das Jugendamt oder ein unverzügliches Eingreifen nach sich.

Unter den Anrufern seien zu einem Großteil Nachbarn, sagte Bormann. Aber auch Polizisten nutzten die Hotline, wenn sie bei einem Einsatz unsicher seien, ob ein Kind in einer Familie belassen werden könne. Die Mitarbeiter der Hotline seien eine Art "Feuerwehr". Sie stellten zunächst das Gefährdungspotenzial fest und berieten die Anrufer. In dringenden Fällen werde der ambulante Notdienst eingeschaltet, um sofort zu helfen.