Politikwissenschaftler Liedhegener zum "C" in Zeiten der Krise

"Den Kern neu durchbuchstabieren"

Welche Rolle hat das christliche Menschenbild in Zeiten der Krise?
Der Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener beobachtet das Verhältnis von katholischer Kirche und Politik in Deutschland. Am Freitag äußerte sich der Wissenschaftler, der am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) der Universität Luzern lehrt, in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin.

 (DR)

KNA: Herr Professor Liedhegener, in der Wirtschafts- und Finanzkrise gibt es viele gute Worte für die Soziale Marktwirtschaft und die kirchliche Soziallehre.
Liedhegener: In Zeiten, in denen eine Neujustierung der Sozialen Marktwirtschaft im nationalen und internationalen Bereich dringend ansteht, verspricht man sich daraus Orientierung. Spannend ist: Zu den Quellen der Sozialen Marktwirtschaft nach 1945 zählte ja nicht nur die katholische Soziallehre, sondern auch der Ordo-Liberalismus.
Beiden Quellen war gemeinsam, dass die Wirtschaft, dass der Markt einen verlässlichen rechtlichen Rahmen braucht. Die Kirchen sollten nun engagiert daran arbeiten, ihre Konzepte für einen Ordnungsrahmen auf den heutigen internationalen Rahmen zu beziehen. Denn politisch ist die Idee der globalen Sozialen Marktwirtschaft grundrichtig.

KNA: Die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft sind ein hoher Anspruch. Wie sehr kann es heute noch eine entsprechend christlich geprägte Politik geben.
Liedhegener: Christliche Aussagen und Glaubensinhalte, Moralvorstellungen und ethische Reflexionen lassen sich ja nicht eins zu eins in Parteipolitik übersetzen. Solche Bemühungen gibt es in Deutschland nur an den politischen Rändern in religiösen Splitterparteien. Da ist es dann bis zum Fundamentalismus nicht mehr weit. Eine christlich geprägte Politik weiß, dass es eine Differenz gibt zwischen christlicher Lebensführung des Einzelnen oder der Religionsgemeinschaften und demokratischer Politik.

KNA: CDU-Chefin Merkel verweist gerne auf das christliche Menschenbild als Grundlage. Reicht das?

Liedhegener: Das christliche Menschenbild ist sicher ein viel und häufig zitierter Begriff.

KNA: Zu häufig zitiert?

Liedhegener: Die Kontexte haben sich geändert. In den 1950er Jahren ließ sich mit dem Thema die Parteienlandschaft polarisieren. Heute spielt es in Wahlkämpfen keine Rolle mehr. Für die politische Kultur der Bundesrepublik ist das gut so. Wenn es nun trotzdem quer durch die Parteien vielfältige Bezüge auf das christliche Menschenbild gibt, zeigt das, dass bestimmte Vorstellungen zu politischen Allgemeingut geworden sind. Und dass wir eine gewisse Säkularisierungsgeschichte abgeschlossen haben. Es wächst das Bewusstsein, dass Demokratie auf Grundlagen aufbaut, die wir eben nicht allein politisch erzeugen können. Daran knüpfen verschiedene Parteien an. Aber letztlich versucht nur die Union, diesen Kernbestand ihrer Tradition in einer stark veränderten Gesellschaft neu durchzubuchstabieren und politisch fruchtbar zu machen.

KNA: Gleichwohl hat die CDU eine andauernde «C»-Debatte.

Liedhegener: Die Union ist derzeit die letzte deutsche Partei, die den Anspruch, Volkspartei zu sein, mit einem gewissen Recht erheben kann. Zu dieser Volkspartei gehört das «C» im Programm wie in der Anhängerschaft. Volkspartei sein heißt aber, dass es in den eigenen Reihen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen und Interessen zu integrieren gilt. Unsere Gesellschaft bringt nämlich enorme Freiheitsmöglichkeiten mit sich und schafft damit - gerade in Zeiten der Krise - Raum für Verunsicherungen. Es gibt dann ein Bedürfnis nach klaren Autoritäten und Antworten. Diese Unsicherheit macht vor der Union nicht Halt. Zu diesem Kontext gehört die Debatte.

KNA: Wie berechtigt ist die Debatte?
Liedhegener: Da schwingen derzeit allzu viele Idealisierungen mit - als wäre mit der protestantischen CDU-Kanzlerin Merkel eine neue Lage entstanden. Die kritischen Stimmen vergessen, dass auch schon unter Helmut Kohl die Anliegen des «C» nicht eins zu eins in die Politik der Union eingeflossen sind. Welche Kontroversen gab es nach 1990 beim Thema Abtreibung! Das wird heute gerne vergessen. Kompromisse, auch schmerzhafte, gehören zur Demokratie. Und trotzdem gilt: Wenn die Union nicht das «C» als Verpflichtung in ihrem Namen tragen würde, würden viele Gesetze in Deutschland anders aussehen.

KNA: Derzeit gibt es Überlegungen zur Gründung eines Katholischen Arbeitskreises der CDU nach dem Pendant auf evangelischer Seite.
Liedhegener: Das wäre ein Rückzug in ein katholisches Ghetto und würde dem Gestaltungsanspruch in einer zugegeben pluralen Gesellschaft nicht gerecht. Der Gedanke mag zwar zunächst naheliegen. Aber er passt nicht zum Selbstverständnis der Union. Die Wirkung des politischen Katholizismus in der jüngeren Geschichte beruht darauf, dass es ein dichtes, vielfältiges Netzwerk von Kontakten gab, mit Gremien wie dem ZdK, der Deutschen Bischofskonferenz, dem Katholischen Büro in Berlin. Darauf kommt es an. Diese Kontakte müsste die Union stärken.

KNA: Ist die Debatte auch eine Folge der Papstkritik Merkels?
Liedhegener: Angela Merkel als protestantische Kanzlerin - das ist ein echtes Thema der Unionsparteien. Die erfolgreichen Bundeskanzler Konrad Adenauer, Kurt Georg Kiesinger, Helmut Kohl waren Katholiken und waren fest verankert vor allem im rheinischen Katholizismus. Ludwig Ehrhard war Protestant, er blieb eine Episode in den 1960er Jahren. So bleibt jetzt eine Fremdheit. Aber Merkel hat in der Williamson-Affäre letztlich nur auf eine kirchliche Entwicklung reagiert: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist die katholische Kirche immer auch Teil der Zivilgesellschaft. Damit misst sich ihr eigenes Handeln auch an jenen Maßstäben, die eine demokratische Gesellschaft ausmachen. Das heißt: am Bekenntnis zu den Menschenrechten und zur Menschenwürde, an der Ablehnung von Rassismus und Holocaustleugnung. Und darauf hat Merkel angemessen reagiert.

KNA: Die kirchlichen Kontakte, die Sie nannten, gibt es zusehends auch bei anderen Parteien. Dort melden sich vermehrt Christen zu Wort. Jetzt formierte sich eine christliche Gruppe in der FDP-Fraktion.

Liedhegener: Die Entwicklung in allen etablierten Parteien ist signifikant für eine Entspannung in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Die Veränderungen bei der FDP sind am bemerkenswertesten. Die liberalen Leitlinien zum Verhältnis von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften aus dem Jahr 2007 atmen einen völlig anderen Geist als die Beschlüsse der 1970er Jahre, die kirchenkritisch, ja kirchenfeindlich waren. Heute suchen die Liberalen das Gespräch mit den Kirchen als Teil einer demokratischen Kultur. Allerdings sollte man nicht ganz daran vorbeisehen, dass es da auch handfeste parteitaktische Momente gibt. Die Neupositionierung 2007 baute auch Hürden ab für bürgerliche, marktliberal eingestellte Katholiken, die sich in einer Union nach dem Abschied von Friedrich Merz nicht mehr aufgehoben fühlen.

Das Interview führte Christoph Strack.