Nobelpreisträger Imre Kertesz wird 80

Stimme aus dem Grauen

Das Leben im Konzentrationslager Buchenwald hat Imre Kertesz und sein Werk nachhaltig geprägt. In seinem bekanntesten Buch "Roman eines Schicksallosen" legt er auf verstörende Weise davon Zeugnis ab. 2002 erhielt er den Literatur-Nobelpreis. Am Montag wurde Kertesz achtzig Jahre alt.

Autor/in:
Peter Kohl
 (DR)

Als es ihn traf, war er gerade 15. Kertesz wurde 1944 aus seiner Geburtsstadt Budapest nach Auschwitz deportiert, zusammen mit Tausenden ungarischer Juden. Später folgte eine Leidenszeit im Lager Buchenwald, fast in Sichtweite der Wirkstätten Goethes und Schillers in Weimar.

Eingebettet ist der "Roman eines Schicksallosen", 1999 in deutscher Sprache veröffentlicht, in eine "Tetralogie der Schicksallosigkeit":
Die Bände "Fiasko" (1988), "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"
(1990) und "Liquidation" (2003) gehören dazu. Doch es ist dieses eine Buch, an dem er 13 Jahre lang arbeitete, das seinen Weltruhm begründete. Auch andere Schriftsteller von Rang wie Primo Levi und Jorge Semprun haben von ihrem Leben im KZ berichtet, aber Kertesz schlägt in seinem Roman, der erst 1975 in Ungarn erscheinen durfte, ganz unerhörte, eigenwillige Töne an.

Die Beobachtungen des jugendlichen Ich-Erzählers sind frei von moralischer Empörung und politischer Analyse. Staunend, unwissend und fast neugierig nimmt er die Welt der Massenvernichtung wahr. Sein Ich verschwindet hinter einer quasi-objektiven Wahrnehmung des Grauens um ihn herum, das er detailliert und präzise schildert. Schicksallosigkeit ist für Kertesz ein anderer Ausdruck für die völlige Fremdbestimmtheit des Menschen unter totalitären Bedingungen. Ein Schicksal kann nur haben, wer die Freiheit der Wahl hat. Diese Freiheit konnte es nicht geben in der Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems.

"Die Freiheit darf nicht verraten werden"
Die Unfreiheit im kommunistischen Ungarn hat Kertesz ebenfalls erfahren und durchlitten. Nach dem niedergeschlagenen Aufstand von 1956 durfte er als Schriftsteller und Übersetzer - vor allem deutscher Literatur - nur noch eingeschränkt publizieren. In dem Roman "Fiasko" schildert er die Existenzbedingungen eines Schriftstellers in einer bürokratischen Diktatur.

Als Gastredner des deutschen Bundestages las Imre Kertesz am 29. Januar 2007 anlässlich des Gedenktages der Befreiung von Auschwitz aus seinem Buch "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind". Es ist der Monolog eines Holocaust-Überlebenden, der kein Kind in diese Welt setzen will; zugleich ist es ein kaum verhülltes Selbstbekenntnis des Schriftstellers, der in den vergangenen Jahren als Warner vor Anti-Amerikanismus und neuem Antisemitismus in Erscheinung getreten ist.

Kertesz, der neben dem Nobelpreis zahlreiche andere Auszeichnungen erhalten hat, ist seit 2003 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Auch wenn er mit seinen Romanen, seinen Geschichten, seinen Essays und Reden immer wieder das Grauen des vergangenen Jahrhunderts ins Gedächtnis ruft, hat er sich nach eigenen Worten eine positive Perspektive bewahrt: "Ich glaube, Europa vertritt etwas, was keine Zivilisation sonst vertritt: die Freiheit der Erkenntnis. Die Freiheit überhaupt. Sie darf nicht verraten werden."