Pecs ist mit Essen und Istanbul 2010 Kulturhauptstadt Europas

Ein mediterraner Schmelztiegel

Einen Autobahnanschluss gibt es nicht, ein internationaler Flughafen fehlt ebenso. Und der Intercity benötigt fast drei Stunden, um von Budapest aus ins südungarische Pecs zu kommen. Zusammen mit Essen und Istanbul ist die Stadt, die im Deutschen Fünfkirchen heißt, Kulturhauptstadt.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

Trotz der Infrastrukturprobleme: Die Stadt verfügt mit ihren rund 170.000 Einwohnern landschaftlich über eine ideale Lage. Am geschützten Südhang des Mecsek-Gebirges herrscht ein mildes, fast mediterranes Klima. Das lockte schon zu vorgeschichtlicher Zeit Siedler an. Nach den Kelten und Illyrern kamen die Römer, im 13. Jahrhundert die Mongolen, im 16. Jahrhundert die Türken. Auch heute noch ist Pecs ein Schmelztiegel der Kulturen. Nach Kroatien und Serbien ist es ein Katzensprung, nach Slowenien und Rumänien gerade mal 200 Kilometer.

Der größte kulturelle Schatz von Pecs sind frühchristliche Grabanlagen, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurden. Im vierten Jahrhundert schuf die christliche Gemeinde südlich des heutigen Domplatzes Kapellen, Grabkammern und Mausoleen. Die Forschungen und Ausgrabungen an den Hunderten von Gräbern dauern an, eine Vielzahl ist zu besichtigen. Vor allem wegen der sehr gut erhaltenen Wandmalereien mit biblischen Motiven nahm die Unesco die Katakomben 2000 ins Weltkulturerbe auf. Nirgendwo außerhalb Italiens gibt es einen besser erhaltenen frühchristlichen Friedhof. Mehr als einen Abstecher wert ist auch die Pfarrkirche Sankt Maria. Das Gotteshaus in der Innenstadt entstand aus einer der 17 Moscheen, die zwischen 1543 und 1686 gebaut wurden.

Pecs lebt vor allem durch seine Atmosphäre
Abgesehen vom neoromanischen Dom, der weltberühmten Porzellanfabrik Zsolnay, den vielen Museen - darunter eines für den Pecser Künstler Viktor Vasarely, Begründer der Optical Art -, und den aufwendig restaurierten Bauwerken aus Barock, Klassizismus und Jugendstil lebt Pecs vor allem durch seine Atmosphäre. Straßenbars und Eiscafes überall. Es geht gemächlich zu, obwohl Pecs wegen seiner rund 30.000 Studenten eine ausgesprochen junge Stadt ist. Zwischen Mandel- und Feigenbäumen und mit Blick auf die Weinberge an den Stadträndern fällt es schwer, dem Toskana-Vergleich des Tourismus-Marketing zu widersprechen. Denkmäler, Brunnen, malerische Plätze und große Parks bestimmen das Bild der Stadt, die in vergangenen Jahrhunderten auch Auswanderer aus Franken, Bayern, Hessen und vor allem aus Schwaben anzog.

Der Schmelztiegel zeigt sich nicht nur im kulturellen Leben, sondern auch in der Verwaltung. Neun Minderheiten dürfen ihre Angelegenheiten selbst verwalten: Deutsche, Roma, Kroaten, Serben, Bulgaren, Polen, Griechen, Ukrainer und ostslawische Ruthenen (Russinen). Roma können sich vom Kindergarten bis zur Hochschule in ihrer Muttersprache unterrichten lassen. Ein Medizinstudium ist nicht nur in Ungarisch, sondern auch in Deutsch und Englisch möglich - und das an einer der ältesten Universitäten des Kontinents, die 1367 unter Mitwirkung von Papst Urban V. entstand. Das Miteinander der Kulturen in der Bischofsstadt symbolisieren der türkische Halbmond und das Kreuz der Christen an der Kuppel der innerstädtischen Pfarrkirche auf dem Szechenyi-Platz.

Den Ruf festigen
Den Titel Kulturhauptstadt will das von Kaiserin Maria Theresia in seiner Entwicklung stark unterstützte Pecs nutzen, um weiteren Raum für Kultur und Kunst europäischen Niveaus zu schaffen. So soll der Ruf als Stadt moderner und zeitgenössischer Kunst gefestigt werden.

Eine Pecser Skurrilität ist bei aller Kulturbeflissenheit das Magashaz. Das 1974 errichtete 84 Meter hohe Wohnsilo steht seit 1989 wegen mangelhafter Statik leer. Als höchstes unbenutztes Hochhaus Mitteleuropas erhielt es sogar einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde. Originell ist auch der Brauch an einem großen Gitter in einer Straße nahe dem Dom: Paare versichern sich dort ihrer Treue und befestigen ein Vorhängeschloss an dem Gitter. Der Schlüssel landet dann in der Kanalisation oder einem der Brunnen der Stadt. Vielleicht lohnt es sich auch deshalb, 2010 nach Pecs zu fahren.