Renate Jäger verlässt das Menschenrechtsgericht in Straßburg

Von europäischer Vielfalt und deutscher Hausmannskost

Das "Caroline-Urteil", die Frage der Kreuze in italienischen Klassenzimmern oder die Klage eines Kirchenmusikers wegen Entlassung aus dem kirchlichen Dienst: Mehrfach erregten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zuletzt die deutsche Öffentlichkeit. Renate Jaeger war seit 2004 die deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – nun zieht sie Bilanz.

 (DR)

KNA: Frau Jaeger, stimmt der Eindruck, dass das Straßburger Gericht Deutschland in den vergangenen Monaten besonders häufig gerüffelt hat?

Jaeger: Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Deutschland ist nach wie vor eines der Länder mit den wenigsten Verurteilungen. Im Jahr 2009 waren es 18, Frankreich hatte 20 und Griechenland 69. Ganz zu schweigen von der Türkei mit 341 oder Russland mit 210 Verurteilungen. Da kann sich die Bundesrepublik doch im europäischen Vergleich durchaus sehen lassen.



KNA: Der "Spiegel" spekuliert darüber, dass das deutsche Recht zunehmend verkrustet und immer weniger europatauglich ist. Gibt es denn über die Jahre einen Anstieg der Verfahren?

Jaeger: Es gab in der Regel 6 bis 7 solcher Verurteilungen jährlich für Deutschland. Dass es diesmal 18 geworden sind, hängt mit den zahlreichen Fällen zusammen, in denen Bürger wegen überlanger Dauer von Gerichtsverfahren klagen. Zieht man die ab, dann liegt man wieder etwa im Schnitt der vergangenen Jahre. Was sich allerdings verändert hat, ist die Wahrnehmung: Der Menschenrechtsgerichtshof, der ja nicht der EU, sondern dem Europarat zugeordnet ist, wird in Deutschland mittlerweile viel intensiver wahrgenommen. Das mag mit besserer Pressearbeit oder mit der Vergangenheit der deutschen Richterin als Bundesverfassungsrichterin zu tun haben. Es zeigt aber auch, dass unsere Gesellschaften pluraler werden und Konflikte immer häufiger auch über die Gerichte ausgetragen werden.



KNA: Setzt der Menschenrechtsgerichtshof andere Prioritäten als das deutsche Bundesverfassungsgericht?

Jaeger: In Karlsruhe und in Straßburg ist das Verständnis von Menschenrechten gleich. Was anders ist, ist die Perspektive. In Straßburg sitzen Richter aus 47 Mitgliedstaaten des Europarates am Tisch. Und damit auch ganz unterschiedliche Kulturen und Erfahrungshorizonte. Man muss dann auch zugestehen, dass die in Deutschland gefundenen Lösungen nicht die allein gültigen sein können. Diesen Mechanismus, sich aus europäischer Perspektive auf die Finger schauen zu lassen, hat die Bundesrepublik ausdrücklich gewollt, als sie die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben und die Einrichtung des Gerichtshofs befürwortet hat.



KNA: Können Sie an einem Beispiel klar machen, warum Karlsruhe und Straßburg zu unterschiedlichen Urteilen kommen können?

Jaeger: Das Bundesverfassungsgericht legt das Grundgesetz aus. Und für Straßburg ist die Europäische Menschenrechtskonvention die Messlatte. Das deutsche Grundgesetz postuliert beispielsweise ausdrücklich den Schutz der Ehe. Davon steht aber in der Menschenrechtskonvention nichts; sie kennt nur den Schutz der Familie und des Privatlebens. Vor diesem Hintergrund haben wir dann geurteilt, dass deutsches Recht gegen die Menschenrechte verstößt, wenn das Sorgerecht nicht verheirateter Väter ohne eine gerichtliche Klärung schon an einem Veto der Mutter scheitern kann.



KNA: Im November haben Sie über einen Sterbehilfefall aus Deutschland verhandelt. Es geht um die Grundsatzfrage, ob der Staat einem Schwerkranken beim Selbstmord helfen muss. Strebt der Menschenrechtsgerichtshof die Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes an, oder will das Gericht den einzelnen Staaten möglichst weite Gestaltungsmöglichkeiten lassen?

Jaeger: Zu dem konkreten Fall kann ich natürlich gar nichts sagen, weil es noch kein Urteil gibt. Die deutschen Gerichte haben übrigens in dieser Sache überhaupt keine inhaltliche Entscheidung getroffen. Sie haben argumentiert, dass die Frau, für die die Beihilfe zum Suizid gedacht war, bereits gestorben war und der Witwer das Verfahren nicht fortsetzen durfte. Aber auch davon abgesehen ist das die falsche Frage. Wir entscheiden über einzelne Fälle, in denen Menschenrechte auf dem Spiel stehen. Es gibt kein übergeordnetes Ziel eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes, erst recht nicht mit Blick auf das Strafrecht. Wir haben zum Beispiel nie beanstandet, dass die europäischen Länder ganz unterschiedliche Strafmaße für die gleichen Delikte haben.



KNA: Das Gericht befasst sich auch mit dem Verhältnis von Staat und Religion. Verfolgt der Gerichtshof da eine andere Linie als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe?

Jaeger: In Europa gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen zum Verhältnis von Staat und Kirche: den Laizismus in Frankreich, die Staatskirchen in England und Skandinavien und das deutsche Modell einer vertraglich geregelten Zusammenarbeit. Auch unter den Richtern gibt es da keine einheitliche Linie. Dazu kommt, dass im großen Europa des Europarats auch der Islam und das orthodoxe Christentum vertreten sind. Die Perspektive des Menschenrechtsgerichtshofs ist also viel multireligiöser als die des Bundesverfassungsgerichts. Dass dann andere Urteile gesprochen werden, ist nicht verwunderlich.



KNA: Was, glauben Sie, werden in den kommenden Jahren die großen Themen für den Menschenrechtsgerichtshof sein?

Jaeger: Das ist sicher die Migration und ihre belastenden Folgen für die jeweiligen Gesellschaften. Dazu kommen mögliche bewaffnete Konflikte: Europäische Soldaten kämpfen an vielen Stellen der Welt. Auch haben die Konflikte zwischen Russland und Tschetschenien sowie Georgien gezeigt, wie schnell auch innerhalb der Grenzen des Kontinents Kriege wieder ausbrechen können.



KNA: Sie verlassen den Gerichtshof zum Jahresende. Was wünschen Sie den Deutschen?

Jaeger: Ein wenig mehr Gelassenheit, wenn es zu unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen deutscher und europäischer Rechtsprechung kommt. Die Deutschen müssen verinnerlichen, dass sie Europäer sind und sich damit auch neue Einflüsse bemerkbar machen. Beim Essen haben wir das doch auch gelernt: Wir lieben Döner und Pizza. Nur beim Recht wollen Viele immer nur deutsche Hausmannskost.



Das Gespräch führte Christoph Arens.