domradio.de: Worin besteht in Ihren Augen das Grundrechte-Dilemma?
Weihbischof Losinger: In der Tat ist seit dem Urteil des Landgerichtes Köln eine hochvirulente gesellschaftliche Debatte entstanden. Es handelt sich hier um ein Dilemma in wesentlichen Grundwerten unserer Verfassung. Da steht auf der einen Seite der Grundsatz der Unverletzlichkeit der menschlichen Person und auf der anderen Seite das Erziehungsrecht und die religiöse Selbstbestimmung der Eltern, die die Beschneidung des Kindes vornehmen und in diesem Kontext findet zu einem Großteil der Streit und die öffentliche Diskussion über Beschneidung von Juden und Muslimen statt.
domradio.de: Auf der Tagesordnung des Ethikrates standen viele Stellungnahmen, darunter von Medizinern, Rechtsexperten und Theologen. Was haben Sie für sich aus den Vorträgen mitgenommen?
Weihbischof Losinger: Ein hervorragendes Fazit besteht für mich darin, dass von unterschiedlichen Herkünften, von einem Muslim, von Ilhan Ilkilic, von einem Juden, von Leo Latasch, von zwei ausgewiesenen Juristen und einem Theologen, die ganz Breite dieses Themas vorgestellt wurde. Hier wurde vor allem auch die Praxis erläutert, wie Beschneidung etwa im Judentum funktioniert und von da aus auch die Breite der Vorwürfe diskutiert, etwa was hat ein Eingriff in das Leben eines jungen Menschen für medizinische Folgen. In der Diskussion kamen hier sehr praktische Fragen zur Debatte: Wie ist es mit der Frage der Anästhesie eines solchen Babys, damit Schmerzempfindung unterbunden wird? Wie ist es mit der fachlichen Kompetenz dessen, der die Beschneidung macht? Müssen Ärzte hier tätig werden? Wie ist es mit der Aufklärung der Eltern über eventuelle medizinische Folgen einer solchen Eingriffssituation? Und bei alledem ist es sehr wichtig gewesen, die ganz praktischen Elemente zu sehen und darüber hinaus von den Juristen auch die Erläuterungen der rechtlichen Voraussetzungen und dessen, was unterscheidet etwa eine Beschneidung vom Tatbestand einer Körperverletzung, wenn es einen Eingriff in das Leben eines Babys ohne dessen Zustimmungsfähigkeit ist.
domradio.de: Bundesfamilienministerin Kristina Schröder sagte, ihr seien die Beibehaltung ärztlicher Standards und die Sicherstellung einer angemessenen Betäubung wichtig. Was ist Ihnen in der Beschneidungs-Frage wichtig?
Weihbischof Losinger: Diese Elemente der praktischen Durchführung und auch des medizinischen Standards sind einhellig diskutiert worden. Eine zweite Debatte, die natürlich auf die Herkunft der Beschneidung als eines Symbols, das aus theologischen und religiösen Gründen im Judentum und aus kulturellem Hintergrund im Islam durchgeführt wird. Das ist eine Debatte, in der eine Gesellschaft, die hochgradig pluralistisch und säkular geworden ist, etwas Befremdliches sieht. Hier wurde in der Tat immer wieder auch der Gedanke genannt, ob es nicht eine Stellvertreterdebatte ist, wo die Frage des Religiösen und des Fremden das eigentliche Thema ist. Die Antwort auf die Legitimierung von Beschneidung muss zumindest in dieser Hinsicht klar sein. Es braucht einen religiösen, historischen und auch im Sinne der Religion und Kultur eines Judentums und Islam mündend guten Grund, um den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes rechtfertigen zu können. Es bestand zumindest, soweit das in der Diskussion im Ethikrat absehbar war, eine Einsicht darin, dass eine solche Legitimation in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat, wie dem unseren, möglich sein muss.
domradio.de: Jetzt ist es so, dass jüdische Beschneidungen in der Bundesrepublik seit 1949 akzeptiert waren, später auch die von Muslimen. Mit dem Urteil des Kölner Landgerichts nun im Juni kam die Wende. Was glauben Sie, woher kommt dieser Stimmungswandel?
Weihbischof Losinger: Der Stimmungswandel scheint damit zusammenzuhängen, dass unsere Gesellschaft auf einem Schritt in das Säkulare gewesen ist, in der zurückliegenden Zeit bereits. Und das sich damit jüdische und islamische Identität als etwas Fremdes gezeigt hat, das möglicherweise mit dem liberalen Selbstverständnis einer modernen Gesellschaft nicht mehr so gut zusammenzupassen schien. Ich denke da nicht selten an Ernst-Wolfgang Böckenförde, der in seinem berühmt gewordenem Satz ausdrückte: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." In diesem Begründungskontext, des Elternrechts und der freiheitlichen Selbstbestimmung hinein, gehört dieses Element, das zur wesentlichen Begründung der religiösen Beschneidung gehört. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass auch ein Rechtsstaat wie der unsere, das insbesondere auch das Bundesparlament ein Interesse daran hat, möglichst bald Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu schaffen für diese Praxis.
domradio.de: Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat eine schnelle rechtliche Klärung zum Thema Beschneidung gefordert. Halten Sie eine schnelle Lösung für realistisch?
Weihbischof Losinger: Für einen Schnellschuss bin ich noch nie gewesen und bin ich auch jetzt noch nicht. Ich bin dafür - und dafür war die heutige Debatte des Deutschen Ethikrates wohl ein Anfang - dass eine gründliche Überlegung in der Gesellschaft und in der Politik, vor allem auch der rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Debatte stattfinden muss, wie das geregelt sein soll. Ich kann mir auch vorstellen, dass ohne ein Gesetz eine befriedigende gute Lösung stattfindet. Wenn der Bundestag der Meinung ist, dass Rechtfrieden nur durch eine rechtliche Regelung möglich ist, kann ich mich auch dafür gut erwärmen.
domradio.de: Mit welchem Ergebnis endete die Sitzung?
Weihbischof Losinger: Eine Empfehlung im eigentlichen Sinne an den Gesetzgeber haben wir nicht verabschiedet. Es war der Ansatzpunkt einer gründlichen Beschäftigung mit diesem Thema, das zur Information und zur Qualifizierung der Meinungsbildung in der Öffentlichkeit und in der Politik dienen soll.
Das Interview führte Hilde Regeniter (domradio.de)
Hintergrund
Der Deutsche Ethikrat empfiehlt, die religiöse Beschneidung minderjähriger Jungen unter strengen Standards zu erlauben. Mindestanforderungen sollten die Einwilligung der Eltern und eine Schmerzbehandlung sein, außerdem müsse der Eingriff fachgerecht erfolgen, erklärte der Ethikrat am Donnerstagabend nach Beratungen in Berlin. Zudem empfahl das Expertengremium dem Gesetzgeber, ein Vetorecht des Kindes abhängig von seinem Entwicklungsstand vorzusehen.
Die Empfehlung erfolge einmütig "ungeachtet tiefgreifender Differenzen in grundlegenden Fragen", hieß es. Seit einem im Juni veröffentlichten Urteil des Landgerichts Köln, das die religiöse Beschneidung als Körperverletzung gewertet hatte, herrscht bei Juden und Muslimen Rechtsunsicherheit. Der Bundestag hat die Bundesregierung aufgefordert, bis zum Herbst einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Beschneidung erlaubt.
Die Beschneidung sei für Juden das höchste Rechtsgebot, sagte der jüdische Arzt Leo Latasch, der seit diesem Jahr dem Ethikrat angehört. Auch der muslimische Rechtsmediziner Ilhan Ilkilic argumentierte für die Praxis. Im Islam ist der Zeitpunkt der Beschneidung nicht festgelegt. Ilkilic zufolge wird sie bis zur Geschlechtsreife, üblicherweise zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr, vorgenommen.
Eindeutig gegen Beschneidung sprach sich im Ethikrat nur der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel aus. Es sei "bizarr", wenn Religionsgemeinschaften eine Definitionsmacht darüber hätten, wann und wie sie einen Körper von Menschen verletzten könnten. Gleichwohl gebe es eine "weltweit singuläre Pflicht gegenüber allen jüdischen Belangen", ergänzte er. Im Konflikt zwischen dem körperlichen Eingriff und der Verpflichtung gegenüber dem Judentum entstehe ein "rechtspolitischer Notstand". Einem auf die praktischen Details gerichteten Kompromiss des Ethikrats könne auch er deswegen zustimmen, sagte Merkel.
Der Verfassungsrechtler Wolfram Höfling mahnte, die Diskussion um Beschneidung ernst zu nehmen. Sie sei eine Stellvertreterdebatte über die Rechte von Religionsgemeinschaften sowie Rechte von Kindern allgemein. "Es ist keine Komikerdebatte", sagte Höfling mit Verweis auf eine Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie hatte erklärt, Deutschland mache sich zur "Komikernation", wenn der Staat Beschneidung verbiete.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hatte vor der Sitzung des Ethikrats vor einem "Angriff auf die jüdische Identität" gewarnt. Das Kölner Urteil irritiere ihn "angesichts der Geschichte und unserer deutschen Geschichte mit dem Judentum schon sehr", sagte er dem epd.
Der evangelische Sozialethiker Peter Dabrock, Mitglied des Ethikrates, forderte Verständnis für die "fremde Religiosität" von Judentum und Islam ein. Dafür warb auch der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, der dem Gremium ebenfalls angehört.
Weihbischof Losinger über Ethikratsitzung zur Beschneidung
Nur kein Schnellschuss
Als einen ersten Ansatzpunkt bezeichnet Weihbischof Anton Losinger das Treffen des Ethikrates zur Beschneidung. Im domradio.de-Interview warnt Losinger, der die katholische Kirche im Ethikrat vertritt, vor einem Schnellschuss. "Ich kann mir auch vorstellen, dass ohne ein Gesetz eine befriedigende gute Lösung stattfindet."
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