KNA: Professor Hengsbach, leben wir in einem rastlosen Land oder in einer rastlosen Zeit?
Hengsbach: Es gibt eine Landkarte der Zeit. Der US-amerikanische Forscher Robert Levine hat etwa herausgefunden, dass das Lebenstempo in Industrieländern viel schneller ist als in weniger entwickelten Ländern. Phasen der Beschleunigung aber gab es immer. Im Mittelalter begann es mit dem Fernhandel, dann die Industrialisierung und heute hat die Digitalisierung für einen Megaschub gesorgt.
KNA: Wie äußert sich das?
Hengsbach: Die computergestützten Finanzmärkte verursachen ein rasendes Tempo. Ein Börsenhändler kann in der Minute drei bis vier Handelsaufträge erledigen. Die automatischen Handelssysteme schaffen am Tag 60 Milliarden Aufträge. Dieses Tempo überträgt sich auf die Unternehmen und auf abhängig Beschäftigte. Der Druck wird in die privaten Haushalte weitergegeben. Am meisten erwischt es die Frauen.
Sie wollen zu Recht erwerbstätig sein. Gleichzeitig bleibt ihnen aber die Kinderbetreuung überlassen.
KNA: Dennoch finden manche Menschen, dass vieles zu langsam geht - wenn sie etwa bei der Post warten müssen. Was ist schlecht an der Beschleunigung?
Hengsbach: Die Schlangen vor dem Postschalter sind ja unmittelbare Folge von Personalabbau. Das ist das, was uns aufstößt: Dass wir von fremden Mächten bestimmt werden und nicht selbst über unsere Handlungen verfügen können.
KNA: Macht uns also die Fremdbestimmung krank?
Hengsbach: Das scheint mir so zu sein. Gegen unser inneres Gleichgewicht zu arbeiten, schafft Zeitdruck. Beschleunigung gab es immer. Die Menschen haben sich daran gewöhnt. Aber jetzt sind wir an einem Punkt, wo politisch Bremsmaßnahmen ergriffen werden. Der VW-Konzern schränkt etwa zwischen Weihnachten und Neujahr geschäftlichen Email-Kontakt ein. Die Bahn lässt ihre neuen Züge höchstens 250 km/h statt 300 fahren.
KNA: Was kann ich da als Einzelner machen?
Hengsbach: Manche versuchen auszusteigen durch Meditation oder ich schaue mir am frühen Morgen den Sternenhimmel an. Manche versuchen es mit kritischem Konsum oder achten auf ihre Ökobilanz. Das sind heroische Einzelmaßnahmen. Nur: Ich kann nicht richtig leben unter falschen Strukturen. Wenn die Finanzmärkte die Ursache für den Druck in der Gesellschaft bis ins Privaten hinein sind, müssen die politisch Verantwortlichen handeln. Zeit muss zum Indikator für gesellschaftlichen Wohlstand werden, nicht die Menge produzierter Güter.
KNA: Wird dann Zeit zu Geld?
Hengsbach: Nein, das gerade nicht. Es ist verrückt, Zeit zum bloßen Instrument zu machen. Für die Konsumgesellschaft ist der Konsum das höchste Gut. Dem wird die Arbeit untergeordnet. Sie ist nur Instrument, um ein höheres Einkommen zu erwirtschaften und mehr konsumieren zu können, ebenso die Zeit: Sie wird in Einheiten entgangenen Einkommens und Konsums gemessen. Aber Zeit zu haben ist ein Wert in sich. In ihr kommen wir zu uns selbst und zu den Menschen, die wir mögen.
KNA: Ist das ein Aufruf zu mehr Genügsamkeit?
Hengsbach: Auf jeden Fall. Je mehr Einkommen ich habe, desto mehr werde ich es in Güter umsetzen. Je mehr wir aber unsere Erwerbsarbeit kollektiv verkürzen, umso mehr haben wir Zeit für unbezahlte Tätigkeiten, für ziviles Engagement und die Beziehungspflege.
KNA: Geringverdiener haben mit diesem Appell wahrscheinlich Probleme.
Hengsbach: Ich kann an eine Alleinerziehende nicht appellieren, mehr Zeit für sich selbst zu finden oder sich mehr Zeiten der Muße zu reservieren. Diejenigen, die den Zeitdruck verursachen, müssen in Schranken gewiesen werden. Der Staat muss sich seine Hoheit wieder erobern gegenüber den Finanzmärkten. Und es braucht Zeitrebellen, die Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen unter Druck setzen, indem sie nicht nach möglichst hohem Konsum, sondern nach einem gelingenden Leben streben.
KNA: Sind Sie selbst so ein Zeitrebell?
Hengsbach: Ich suche mir Nischen, den Sonntag, die Ferien, die ich mir bewusst frei halte, und wo ich für berufliche Anfragen nicht erreichbar bin.
Das Interview führte Veronika Wawatschek (KNA)
Hinweis: Das Buch von Friedhelm Hengsbachs Buch «Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung» ist im Westendverlag erschienen und kostet 19,99 Euro.