Dogan Akhanli: Türkei ist gespaltenes Land

"Angst vor Islamisierung"

Seit mehr als 20 Jahren lebt der türkischstämmige Schriftsteller Dogan Akhanli in Deutschland. Die aktuellen Proteste in seinem Geburtsland kommen für ihn wenig überraschend. Im domradio.de-Interview spricht er über die Ursachen.

Türkei: Proteste gegen die Regierung (dpa)
Türkei: Proteste gegen die Regierung / ( dpa )

domradio.de: Menschen-Massen auf dem Taksim-Platz, sie alle protestieren gegen Erdogans Politik. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in der Türkei ein?

Akhanli: In diesen Demonstrationen erleben wir etwas Neues in der türkischen Geschichte: Die Individualität und Kreativität der Massenbewegung ist eine ganz neue Erfahrung für die Gesellschaft. Und diese Individualität erstaunt alle, auch in Deutschland. Natürlich sind die Bäume nicht der Hauptgrund, es geht um ganz andere Probleme. Diese Regierung hat es zwar gewagt, sich mit den Kurden an einen Tisch zu setzen. Auf der anderen Seite vergisst sie, dass diese Gesellschaft seit 90 Jahren ein westlich orientiertes, modernes und säkulares Land ist.

Wenn so viele junge und gebildete Frauen eine so wichtige Rolle spielen wie jetzt bei den Protesten, hat das auch mit ihrer eigenen Angst zu tun. Angst davor, dass sich das Land in Richtung Islamisierung bewegt und sie sich nicht mehr so frei bewegen können wie früher. Auf der einen Seite genießt die Regierung eine unglaubliche Unterstützung der Bevölkerung, auf der anderen schlägt ihr nun unglaublicher Hass entgegen. Weil sie ignoriert, dass auch diese Hälfte der Bevölkerung ein Recht auf eigene Meinung und Lebensart hat.

domradio.de: Aus wirtschaftlicher Perspektive hat Erdogan sein Land vorangebracht: Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht, die Türkei gehört heute zu den  20 größten Wirtschaftsnationen der Welt. Außerdem hat Erdogan der Türkei eine Stabilität gebracht, wie seit Jahrzehnten nicht mehr...

Akhanli: Ein türkischer Analytiker hat über Erdogan einen Artikel geschrieben, in dem er fragt: Ein Mann, der politisch bislang so erfolgreich war, muss um die Macht der Massenbewegung wissen - warum reagiert er dennoch so dumm? Vielleicht kann er nicht ertragen, dass ihn so viele Menschen nicht mögen.

domradio.de: Im nächsten Jahr will der Premierminister dann sogar ins höchste Staatsamt aufsteigen. Erdogan als Präsident - diese Aussicht bereitet  vielen Türken Unbehagen. Warum?

Akhanli: Er ist machtgierig, das war er schon immer. Dabei sollte der Staatspräsident eine andere Haltung an den Tag legen. Eine moderatere, nicht die eines Parteivorsitzenden. Erdogans Hauptproblem ist seine Unberechenbarkeit, und deshalb gehen die Menschen jetzt auf die Straße.

domradio.de: Was würden Sie sagen: Steht für Erdogan in erster Linie für wirtschaftliches Vorankommen - oder vielleicht doch eine schleichende Islamisierung?

Akhanli: Das weiß ich auch nicht. Sollte er die Phantasie einer Islamisierung im Kopf haben, könnte er den Rückhalt seiner Partei verlieren. Und die aktuelle Regierung stellt die einzige Möglichkeit gegen eine Radikalisierung des Landes dar.

domradio.de: Sie haben die Ungerechtigkeit und den absoluten  Machtwillen der türkischen Regierung selber zu spüren bekommen. Wovor hat die Regierung Ihrer Meinung nach solche Angst, dass sie ihren Bürgern keine Meinungsfreiheit gewährt?

Akhanli: An meinem Fall sieht man, dass sich die Türkei in Richtung Demokratie entwickelt. Das Land hat aber weiterhin riesige Probleme innerhalb seinen Strukturen, konkret in seinem Polizei- und Justizapparat. Hier sind Reformen notwendig. Aber es gibt zu viele mächtige Gruppen, die nicht bereit sind, weitere Demokratisierungsbemühungen zuzulassen. Die Willkür, die ich persönlich erlebt habe, ist nicht die Ausnahme, weil ich Deutscher und Regierungskritiker bin. Unglaublich viele Menschen werden Opfer willkürlicher Behandlung. In der Türkei ist es möglich zu diskutieren - aber die Folgen dieser Diskussionen sind nicht absehbar.

Das Gespräch führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR