Winfried Kretschmann, der baden-württembergische Ministerpräsident, und Sven Giegold, der finanzpolitische Sprecher seiner Fraktion im Europäischen Parlament, gaben dabei eine ganz andere Antwort als die bayerischen Grünen in einem Papier von 2010. Die Kretschmann-Giegold-Stellungnahme soll nach dem Willen ihrer Autoren dazu beitragen, die parteiinterne religionspolitische Debatte öffentlich und kontrovers zu führen.
Rückblende: Die bayerischen Grünen forderten vor drei Jahren in einem Papier, historisch gewachsene Rechte der christlichen Kirchen solle der Staat schrittweise ablösen. Konkordate seien nicht mehr zeitgemäß. Kirchliche Einrichtungen wie Kindergärten und Pflegedienste sollten dem normalen Arbeitsrecht unterworfen werden. Kritik gab es auch am Institut der Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die beiden großen Kirchen waren empört, auch Politiker anderer Parteien ließen kein gutes Wort an dem Papier.
Nun taten sich zur Formulierung einer parteiinternen Gegenposition mit Kretschmann und Giegold zwei Grüne zusammen, die in den beiden großen Kirchen bestens vernetzt sind. Kretschmann ist seit Jahren Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und der Attac-Mitbegründer Giegold gehört der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT) an.
Frommer, als man glaubt
Aus Kretschmanns Sicht sind indes "viele Grüne frommer, als man glaubt". Dies zeige etwa die Haltung der Partei zur Embryonenforschung. Zwar sei religiöser Pluralismus anstrengender und schwieriger als etwa das in Frankreich praktizierte Modell des Laizismus, doch die deutsche Variante habe einen Mehrwert, von dem alle profitierten. Zudem müsse es immer der Anspruch seiner Partei sein, die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken. Ausdrücklich äußerte sich der Ministerpräsident und Bundesratsvorsitzende als Parteipolitiker, denn Religionsverfassungsrecht stehe bei der baden-württembergischen Koalition "nicht auf der Agenda".
Auch für Giegold steht fest, dass die Kirchen Haltungen prägten, "von denen wir alle profitieren und die deshalb auch förderungswürdig sind". Die Debatte über die Kirchen sei deshalb auch eine Debatte über Gemeinschaften und Staat insgesamt. In diesem Zusammenhang wurde auch das Zitat des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde bemüht, wonach "der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann".
"Sehr fruchtbare Anstöße"
Trotzdem sangen Kretschmann und Giegold nicht nur Kirchenlieder: Für sie ist klar, dass der staatliche Umgang mit den Religionen geändert werden müsse, weil es, vor allem durch die Muslime in Deutschland, eine religiöse Pluralisierung gebe. Prinzipiell wollen Kretschmann und Giegold zwar am kirchlichen Arbeitsrecht festhalten, halten es aber nicht mit dem christlichen Auftrag für vereinbar, eine lesbische Ärztin oder einen wiederverheirateten Erzieher nicht zu beschäftigen. Auch das Streikrecht sei mit dem Tendenzschutz kirchlicher Arbeitgeber zu vereinbaren. Für "entbehrlich" halten beide den Blasphemie-Paragrafen im Strafgesetzbuch. Nötig sei jedoch Respekt vor den innersten Überzeugungen anderer.
Zur Diskussion ihrer Thesen hatten Kretschmann und Giegold Experten verschiedenster Richtungen nach Stuttgart eingeladen. Der Münsteraner Soziologe Karl Gabriel bescheinigte dem Papier "sehr fruchtbare Anstöße". Auch die liberale Rabbinerin Elisa Klappheck sprach von einem "guten Ansatz zur Beschreibung des Staat-Kirche-Verhältnisses".
Für Kirsten Wiese von der Humanistischen Union ist in der Kretschmann-Giegold-Vorlage der Islam nur unzureichend berücksichtigt. Die katholische Tübinger Theologin Regina Ammicht Quinn plädierte für eine grundsätzliche Überprüfung kirchlicher Privilegien. Die Bochumer evangelische Theologin Isolde Karle warnte dagegen vor einem "Absolutismus der Gegenwart". Wenn es viele kirchliche Angebote wie etwa Religionsunterricht nicht mehr gebe, habe "die Gesellschaft das größere Problem".