Deutschland lieferte mehr als 100 Tonnen Chemikalien an Syrien

Zur Herstellung von Zahnpasta?

Wegen des Giftgas-Einsatzes bei Damaskus steht Syrien seit Wochen massiv in der Kritik. Jetzt kommt heraus, dass Deutschland Chemikalien geliefert hat, mit denen Nervengifte wie Sarin entwickelt werden können. Die Bundesregierung wiegelt ab.

 (DR)

Deutschland hat Syrien mehr als hundert Tonnen Chemikalien geliefert, die auch zur Herstellung von Giftgas verwendet werden können. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die am Mittwoch veröffentlicht wurde. Die Lieferungen stammen aus den Jahren 2002/03 und 2005/06. Damals waren in Berlin Rot-Grün beziehungsweise die große Koalition aus Union und SPD an der Regierung.

Die Ausfuhrgenehmigung wurde nach Regierungsangaben nur unter der Bedingung erteilt, dass die Chemikalien für zivile Zwecke genutzt werden. Demnach gibt es "keinerlei Hinweise" auf eine andere Verwendung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die damals schon amtierte, sagte den ARD-"Tagesthemen": "Nach allen Erkenntnissen, die mir zur Verfügung stehen, sind sie für zivile Dinge benutzt worden."

Das Regime von Machthaber Baschar al-Assad steht im Verdacht, bei einem Giftgas-Einsatz im August viele hundert Menschen getötet zu haben. Deshalb soll Syrien seine gesamten Chemiewaffen-Bestände offenlegen und vernichten. Merkel sprach am Mittwoch von "sehr starken Indizien", die darauf hindeuten, dass das Assad-Regime für den Einsatz verantwortlich sind. Sie will, dass die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.

Dual-Use-Güter

Nach Regierungsangaben wurden aus Deutschland in den Jahren 2002/03 insgesamt fast 40 Tonnen und 2005/06 nochmals mehr als 97 Tonnen an Syrien geliefert. Dabei handelt es sich um Fluorwasserstoff, Ammoniumhydrogendifluorid und Natriumflorid sowie Zubereitungen mit Kalium- oder Natriumcyanid. Dies sind sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke verwendet werden können.

Der Experte Ralf Trapp von der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) sagte: "Damit kann auch Giftgas wie Sarin hergestellt werden." Der Linke-Spitzenkandidat Gregor Gysi kritisierte im Kurznachrichtendienst Twitter: "Deutschland ist offenkundig mitschuldig am Tod von über 1400 Kindern, Frauen+Männern durch den Chemiewaffenanschlag vom 21.08. bei Damaskus."

In deutschen Regierungskreisen hieß es jedoch, der Export sei zum Beispiel für die Verwendung bei der Schmuckherstellung oder in der Ölindustrie erlaubt worden. Die Chemikalien würden auch zur Behandlung von Metall oder zur Herstellung von Zahnpasta benutzt.

Merkel nimmt Rot-Grün in Schutz

Im offiziellen Antwortschreiben des Wirtschaftsministeriums heißt es, die Genehmigungen seien erst nach "sorgfältiger Prüfung aller eventueller Risiken, einschließlich von Missbrauchs- und Umleitungsgefahren im Hinblick auf mögliche Verwendungen in Zusammenhang mit Chemiewaffen, erteilt" worden.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte in einem Interview mit den ARD-Tagesthemen, die Bundesregierung habe keine Hinweise darauf, dass Syrien deutsche Chemikalien-Lieferungen zum Bau von C-Waffen genutzt hat. Es gebe keine Informationen darüber, dass die exportierten Chemikalien zur Herstellung von Giftgas verwendet worden seien. Rot-Grün habe seinerzeit "sehr klar nachgeschaut", wofür die Chemikalien benutzt würden, sagte Merkel. "Nach allen Erkenntnissen, die mir zur Verfügung stehen, sind sie für zivile Dinge benutzt worden."

Die SPD wollte sich auf Anfrage dazu bisher nicht äußern. Der Grünen-Außenexperte Frithjof Schmidt sprach sich für eine "ausführliche Klarstellung des Vorgangs seitens des Wirtschaftsministeriums" aus. "Die Bundesregierung verweist darauf, dass bei der Genehmigung der chemischen Stoffe für eine Ausfuhr nach Syrien alle eventuellen Risiken und Missbrauchsgefahren geprüft wurde", sagte Schmidt dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sollten die Stoffe doch für die Herstellung von Chemiewaffen verwendet worden sein, hätte das deutsche Rüstungsexportkontrollsystem kläglich versagt.

Schmidt forderte eine grundlegende Reform des gegenwärtigen Systems der Rüstungsexportkontrolle. Der Grünen-Politiker bemängelte vor allem, dass das Wirtschaftsministerium und nicht das Auswärtige Amt für Rüstungsexporte federführend sei. Zudem kritisierte er Geheimhaltung und Nichteinbeziehung des Parlaments. Der Bundestag müsse im Vorfeld der Entscheidungen informiert werden.

Unions-Forderung leichterer Rüstungsexporte sorgt für Ärger

Parallel zur Debatte um Chemielieferungen an Syrien gibt es innerhalb der schwarz-gelben Koalition Streit über deutsche Rüstungsexporte. Nach Informationen von "Spiegel Online" (Mittwoch) reagierte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) im Auswärtigen Amt verärgert auf ein Papier der Unionsfraktion, das für die Zukunft "mehr Mut" bei der Ausfuhr von Kriegsgerät und eine Aufweichung der Exportrichtlinien fordert.

Demnach sagte der Minister intern: "Eine restriktive Kontrolle von Rüstungsexporten steht unserem Land gut zu Gesicht." Aus dem Auswärtigen Amt hieß es laut "Spiegel Online", man sei über das Papier der Union "erstaunt". Konkret habe Westerwelle angekündigt, mit der FDP werde es in einer möglichen neuen schwarz-gelben Koalition keinerlei Abweichung vom restriktiven Kurs beim Handel mit deutschen Waffensystemen geben. "Solange ich Außenminister bin, bleiben die Exportrichtlinien so wie sie sind - restriktiv und mit unseren Partnern eng abgestimmt", zitierte das Nachrichtenportal Westerwelle.

Ausgelöst worden war der Streit durch ein Positionspapier der Unions-Verteidigungspolitiker, über das das Magazin "Der Spiegel" am Montag berichtet hatte. In der verteidigungspolitischen Bilanz fordert die Arbeitsgruppe, dass die Richtlinien für Rüstungsexporte "in Zukunft überdacht und die politische Unterstützung für Exporte gestärkt werden" müsse. Dies gelte "auch gegen medialen Widerstand" oder Vorbehalte in der Öffentlichkeit. "Wer auf die Exportnation Deutschland stolz ist", so das Papier, "darf das auch im Wehrtechnikgeschäft sein". Deswegen sei für die Zukunft "mehr Mut" bei der Regierung angezeigt.

Pax Christi übt scharfe Kritik an deutschen Rüstungsexporten

Die katholische Friedensbewegung Pax Christi hat derweil ihre scharfe Kritik an der deutschen Rüstungspolitik erneuert. "Die Rüstungsexporte sind der größte Skandal der deutschen Politik", sagte die Generalsekretärin der deutschen Sektion, Christina Hoffmann, dem Internetportal katholisch.de in Bonn. Entgegen aller ethischen Grundsätze würden deutsche Kriegswaffen an menschenrechtsverletzende Staaten und in Kriegsgebiete geliefert.

"Die Bundesregierung unter Angela Merkel genehmigt Rüstungsexporte, die noch vor Jahren als untragbar galten, und sie entzieht sich dabei nahezu vollständig der demokratischen Kontrolle", kritisierte Hoffmann. "Das muss ein Ende haben."


Quelle:
dpa , KNA , epd