Deutschland gedenkt am Wochenende der Opfer der judenfeindlichen Ausschreitungen und Übergriffe vom 9. November 1938. Vor dem 75. Jahrestag der sogenannten Novemberpogrome, mit denen die Judenfeindschaft der Nationalsozialisten in offene Gewalt umschlug, häuften sich zudem Warnungen vor einem neu erstarkenden Antisemitismus. Wie eine am Freitag von der EU-Grundrechteagentur FRA veröffentlichte Umfrage ergab, fühlen sich Juden in Europa zunehmend angefeindet und bedroht. 44 Prozent der befragten jüdischen Bürger gaben an, dass der Antisemitismus in ihrer Wahrnehmung in den vergangenen fünf Jahren stark zugenommen habe.
Studie: Jeder dritte Jude in Deutschland nimmt mehr Antisemitismus wahr
Die Grundrechteagentur hatte jüdische Bürger in acht Ländern interviewt, darunter auch Juden in Deutschland. Hierzulande machen sich 32 Prozent der Juden Sorgen über eine deutliche Zunahme der Ressentiments. In der Bundesrepublik leben rund 120.000 Juden, sie bilden die drittgrößte jüdische Gemeinde in Europa hinter der französischen und der britischen.
In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten deutschlandweit Synagogen und jüdische Geschäfte. Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt. Nach Schätzungen von Historikern starben mehr als 1.300 Menschen während und infolge der Gewalt.
Zur Erinnerung an die Opfer sind für das Wochenende zahlreiche Veranstaltungen geplant. Unter anderem wird Bundespräsident Joachim Gauck am Samstagnachmittag einen Gedenkort im brandenburgischen Eberswalde besuchen, der auf den Grundmauern der 1938 zerstörten Synagoge entstanden ist.
Evangelische und katholische Kirche in Berlin rufen zu einem Gedenkweg auf. Zu einer Gedenkstunde der Jüdischen Gemeinde am Samstagabend werden unter anderem auch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman erwartet.
Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, warnte vor einem Bedeutungsverlust des 9. November als Gedenktag. In Deutschland sei häufig nur noch eine ritualisierte Betroffenheit zu beobachten, sagte er "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstagsausgabe). Er persönlich wünsche sich eine "ehrliche emotionale Anteilnahme".
Bischof Wiesemann: Im Gedenken nicht nachlassen
Die christlichen Kirchen in Deutschland riefen dazu auf, im Gedenken an die nationalsozialistischen Judenpogrome nicht nachzulassen. Die gemeinsame Erinnerung aller Christen an die Reichspogromnacht sei eine wichtige Quelle für Toleranz und ein versöhntes Miteinander, sagte der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann am Donnerstag in Speyer. Wiesemann ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK).
Das Erinnern an die Zerstörung und Schändung vieler Synagogen, jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser vor 75 Jahren, aber auch das Gedenken an die Opfer der NS-Schreckensherrschaft insgesamt sei ein wichtiger Beitrag für ein humanes Miteinander, sagte der Bischof. Dabei komme dem gemeinsamen Zeugnis aller Christen eine besondere Bedeutung zu. "Wo Gemeinden unterschiedlicher Kultur, Sprache und Herkunft sich miteinander vor Gott versammeln, haben Fremdenfeindlichkeit und Rassismus keine Chance", unterstrich Wiesemann.
In das Gedenken an die Opfer mische sich auch die Scham über das Schweigen von Christen, sagte Wiesemann. Indem die Menschen vor Gott ihr Versagen eingestünden, könnten sie neu den Weg zueinander finden und Brücken zu den Mitmenschen bauen.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erklärte am Freitag: "Die Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 mahnt uns, in unserem Land und anderswo einer solchen Barbarei entgegenzutreten". Vor "antisemitischen, rassistischen und rechtsradikalen Parolen" dürfe nicht zurückgewichen werden, forderte der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider.
75 Jahre nach den Novemberpogromen äußerte sich der Dortmunder Rabbiner Avichai Apel erfreut über ein Wiederaufblühen des jüdischen Lebens in Deutschland. "Es gibt wieder ein lebendiges Judentum in Deutschland", sagte der orthodoxe Rabbiner dem Evangelischen Pressedienst (epd). Apel ist Mitglied im Ständigen Ausschuss der Europäischen Rabbinerkonferenz, die bis Dienstag in Berlin tagt - zum ersten Mal seit dem Holocaust in Deutschland.