Als Marathonläuferin bewegt sich Martje Salje gewöhnlich über Stock und Stein. Ab Januar kann die 33-Jährige ihr Training in die Höhe verlegen: Dann übernimmt die Musikwissenschaftlerin und Historikerin als erste Frau die Aufgabe des Türmers auf Münsters Lambertikirche. Ihre Arbeitsstätte, 75 Meter über den Dächern der westfälischen Metropole, ist nur über 298 Stufen einer schmalen Wendeltreppe zu erreichen.
Der Turmbläser auf Münsters berühmter Bürgerkirche ist bereits 1397 urkundlich erwähnt und damit Europas älteste Tradition dieser Art. "Das ist mein absoluter Traumjob", sagt die lebhafte Frau mit den wuscheligen Haaren am Mittwoch im altehrwürdigen Krameramtshaus, wo sie und ihr Vorgänger Wolfram Schulze sich Scharen von Journalisten stellen.
"Wollen Sie berühmt werden?"
Dabei geht es nur um einen 18-Stunden-Job, bei dem man sechsmal die Woche zwischen 21.00 Uhr und Mitternacht halbstündlich in ein Kupferhorn stoßen muss. Doch auf die Ausschreibung der Stadt unter der Überschrift "Wollen Sie berühmt werden?" hatten sich 40 Männer und 6 Frauen beworben. Der neue Türmer müsse schwindelfrei sein, mit dem Alleinsein gut klarkommen, sich mit Münsters Kultur und Stadtgeschichte auskennen und gewandt sein im Umgang mit Öffentlichkeit und internationalen Medien, so das Anforderungsprofil für Münsters Spitzenjob, der vom Verdienst her aber nur Idealisten locken kann.
Einst hatte der Türmer die verantwortungsvolle Aufgabe, herannahende Feinde und Brände zu melden. Letzteres hat Wolfram Schulze in den letzten Jahren öfter getan. Stets hat er sich bei Dienstantritt in seiner knapp 15 Quadratmeter großen Stube per Telefon bei der Feuerwehr gemeldet. Ende Dezember ist für den 70-Jährigen nach knapp 20 Jahren als Turmbläser endgültig Schluss, wie er bedauernd feststellt. Tiefgang müsse man haben, um die vielen abendlichen Stunden abgeschieden von der umtriebigen Welt zu ertragen, sagt der vielstudierte Mann. "Man kann gar nicht ohne Philosophie da oben auskommen", stellt Schulze fest und zitiert Heideggers Türmer-Aphorismus. "Und abgehärtet muss man da oben sein", rät er seiner Nachfolgerin.
Schulze hat auf dem Turm den Orkan "Kyrill" überlebt. Da habe es "ganz schön geschwankt". Anstatt in alle vier Himmelsrichtungen habe er ausnahmsweise nur auf einer Seite getutet, bekennt der Türmer. Sein Horn aus Kupfer und Holz, das jetzt 49 Jahre alt ist, will er irgendwie nicht aus der Hand legen.
"So viel spannende Geschichte"
Die aus Oldenburg stammende Salje zeigt sich voll Vorfreude und Respekt für die neue Aufgabe: "Münster und gerade die Lambertikirche haben so viel an spannender Geschichte zu bieten." Dazu gehörten auch die etwas grausigen Ereignisse um die drei "Wiedertäufer", deren Leichen Anfang des 16. Jahrhunderts in Käfigen am Turm der Lambertikirche ausgestellt wurden. Die gruseligen Körbe sind dort noch heute zu sehen. Und: In Sankt Lamberti hielt der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen 1941 auch seine berühmten Predigten gegen die menschenverachtende Ideologie der Nazis.
All das und noch viel mehr will Swanje, die Englisch, Französisch, Niederländisch und etwas Norwegisch spricht, auch auf Wunsch der Stadt in einer Art "Historytainment" den Menschen nahebringen. Dass Swanje evangelisch ist, war für ihre Auswahl kein Hindernis. Denn die Türmerstube sei eine Art Exklave der Stadt, so die Chefin von Münster Marketing, Bernadette Spinnen. Doch auch wenn die katholische Kirche hier offiziell nicht mitzubestimmen hat, signalisierte auch Rudolf Söbbeke vom Kirchenvorstand wohlwollendes Einverständnis.
So kann es für die neue Türmerin nach Weihnachten losgehen. Ihr Dienstsitz, den Schulze mit Gemälden und Skulpturen von Caspar David Friedrich bis Salvador Dali bestückt hat, gefällt ihr gut. An dem schlichten hölzernen Schreibtisch neben dem gut gefüllten Bücherschrank kann sie in den Pausen ihrem Hobby Schreiben und Lesen nachgehen. Auf Gesellschaft wird Salje dort oben aber verzichten müssen: Außer ihr dürfen nur Repräsentanten der Stadt auf die Plattform hoch über den Dächern Münsters.