Die Jesus-Figur in der Kapelle betont das Leiden des Gekreuzigten - der Körper gewunden, das Gesicht verzerrt, Arme und Beine abgetrennt. "Sie soll Mut machen, zur Unvollkommenheit und Gebrochenheit zu stehen", sagt der Psychologe Wunibald Müller. Denn in dem kleinen, ovalen Raum kommen Seelsorger zusammen, deren eigene Seele "Muskelkater" hat, wie es ein früherer Gast formulierte. Das Recollectio-Haus im bayerischen Benediktinerkloster Münsterschwarzach ist ein in Deutschland einmaliges Therapiezentrum für katholische Geistliche und Kirchenmitarbeiter.
Stress, Überlastung und Burnout sind auch für Priester eine zunehmende Gefahr. "Das hängt unter anderem zusammen mit den veränderten Seelsorgestrukturen", erläutert der Psychotherapeut Ruthard Ott. "In den Pfarreien und auch in den Klöstern gibt es weniger Nachwuchs, deshalb werden die Aufgaben auf weniger Schultern verteilt." Berufswunsch Priester - Berufswirklichkeit Manager, so erlebten es viele.
"Die Seele hat verrückt gespielt"
"Im September 2011 hat's mich dann aus dem Gleis gehoben", erzählt Matthias Ibach. Der 55-Jährige war damals katholischer Pfarrer in Lörrach (Baden-Württemberg). "Man hat gearbeitet, ist gerannt, irgendwann lief man innen leer, ohne es zu merken", sagt er. "Die Seele hat verrückt gespielt, ich hatte Panikattacken, konnte nicht mehr schlafen. Bis dann der Zusammenbruch kam."
In Münsterschwarzach suchte er Hilfe. Immer 18 Männer und Frauen leben in der Regel drei Monate in den kleinen Einzelzimmern im nüchternen Jugendherbergs-Stil. Nicht alle haben ein Burnout, aber alle brauchen eine Auszeit und wollen sich auf sich selbst besinnen. Sie nehmen an Gesprächsgruppen und Einzeltherapien teil, machen Sport, basteln und arbeiten in den Werkstätten der Abtei. Drei Patres sorgen für spirituelle Begleitung. "Spiritualität hat hier die gleiche Bedeutung wie Psychotherapie", betont Wunibald Müller, der das Recollectio-Haus seit der Gründung vor 23 Jahren leitet.
Ein geschützter Ort
Wichtig sei auch, dass die Einrichtung - unterstützt von acht deutschen Diözesen - ein geschützter Ort sei. Dass kirchliche Vorgesetzte nicht erfahren, worüber gesprochen wird. Denn die Therapie im kirchlichen Kontext ist eine Gratwanderung. "Als Therapeut muss ich mich der Wirklichkeit stellen. Das bedeutet, immer auch mit den Schattenseiten von Kirche in Berührung zu sein."
Wenn ein Priester beispielsweise unter dem Leben im Zölibat leide, versuche das Recollectio-Team, ihm zu helfen, den für ihn richtigen Weg zu finden - und sich dabei nicht von der Erwartung des Bischofs beeinflussen zu lassen, der den Priester nicht verlieren möchte. "Das Zölibat ist eine wunderbare Einrichtung für denjenigen, der das Charisma dazu hat. Aber viele, die sich ihr Leben lang damit rumquälen, wären ohne viel bessere Seelsorger. Man sollte es freistellen", fordert Müller.
Auch der Umgang mit Sexualität ist ein wichtiges Thema. Oder die Zerreißprobe, wenn persönliche Überzeugungen sich nicht mit dem decken, was offiziell Linie der Kirche ist.
Die eigene Hilflosigkeit eingestehen
Ein zentrales Problem für Geistliche ist auch die Rolle als Helfer und Seelsorger, die es schwierig macht, eigene Hilflosigkeit einzugestehen. Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer hat für dieses Phänomen schon 1977 das Schlagwort der "hilflosen Helfer" geprägt. Bei Priestern kommt noch etwas dazu: "Wie kann es jemandem schlecht gehen, der so eine gute Beziehung zum lieben Gott hat?", sagt Müller. Allerdings gebe es hier ein Umdenken - auch bei den Kirchenoberen.
Matthias Ibach konnte den "Grauschleier, der sich über alles gelegt hatte", in den drei Monaten im Recollectio-Haus beiseite schieben. "Man ist vielem auf die Spur gekommen, wie man so geworden ist", erzählt er. Wie sich von früh an die Erwartung, immer zuerst seine Pflicht zu erfüllen, in ihm eingebrannt hatte. "Es war ein langsames Hinführen zu den eigenen Quellen." Und dazu, besser für sich selbst zu sorgen. "Ich back' mein Brot wieder selber. Ich habe die Geige wieder vorgeholt, laufe wieder." Heute arbeitet er wieder als Pfarrer, jetzt in Kippenheim nördlich von Freiburg.
Größere Zuständigkeiten und mehr Arbeit gebe es in der Kirche, sagt er. "Aber das ist nicht der hinreichende Grund, sondern eher die mangelnde Sorge für sich selbst." Wunibald Müller erinnert seine Gäste gern an einen Kernsatz aus der Bibel: "Liebe deinen Nächsten - wie dich selbst", betont er. "Aber das Zweite hört man oft nicht."