domradio.de: Die Online-Ausgaben der Zeitungen titeln heute mit "Provokanter Befreiungsschlag des Bundespräsidenten". Sehen Sie das ähnlich? War das ein Befreiungsschlag?
Friedhelm Hengsbach: Nein, ich finde diese Erregung, die gegenwärtig durch das Internet geistert, völlig übertrieben. Natürlich hat diese Rede Schwachstellen, sie lebt aus den Erfahrungen in der früheren DDR und ist begeistert von der Freien Marktwirtschaft wie Frau Merkel, bevor ihr Handy abgehört wurde. Da klingt einerseits eine bestimmte Freude über die Freiheitsgeschichte und über das, was der Freie Markt in einer Demokratie bedeutet, heraus. Auf der anderen Seite greift der Präsident die Ideen von Walter Eucken und der Freiburger Schule auf, und da wird eigentlich ganz deutlich gesagt, dass der Wettbewerb gefährdet wird durch private Macht. Als Beispiel dient die Weimarer Zeit. Aber das ist ja heute genauso durch die Lobbyisten in den Banken und den Großkonzernen. Und da heißt es auch, dass der Wettbewerb natürlich auch gefährdet wird durch staatliche Macht. Also: Immer dort, wo Machtballung auftritt, die nicht kontrolliert ist, da sieht er große Gefahren.
domradio.de: Papst Franziskus hingegen hat ja zuletzt zur Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem angesetzt. Mit seinem Schreiben "Evangelii gaudium" hat er eine Kapitalismusdebatte ausgelöst. Wie steht die Kirche zu diesem Thema?
Pater Hengsbach: Die katholische Soziallehre seit Pius XI. sieht ja nicht nur die Marktwirtschaft, sie wehrt sich auch in zunehmendem Maß dagegen, den Markt als letztes regulierendes Prinzip anzusehen. Das wäre durchaus in Übereinstimmung mit dem, was der Bundespräsident sagt. Aber darüber hinaus sehen die Vertreter der Kirche, also auch der römischen Zentrale, die Wirtschaft, wie sie sie aus der Dritten Welt erleben. Und das ist eine ganz andere Perspektive. Hier wird immer so getan, als sei in Deutschland alles in Ordnung, als gäbe es hier die Kontrolle wirtschaftlicher Macht durch den Staat oder durch das Kartellgesetz, das wird hier sehr idealistisch gesehen. Auch der Reichtums- und Armutsbericht für Deutschland erklärt ja die wachsende Spaltung der Gesellschaft. Auf diese Situation geht der Bundespräsident wenig ein, und das ist gerade das, was den Papst so nervt und wozu er eine wirklich prophetische Rede hält, dass die Dritte Welt bzw. die Entwicklungsländer, ja die Mehrheit der Weltbevölkerung unter der Drohung lebt, aus einer Wirtschaft ausgeschlossen zu werden, die von den großen Konzernen und den großen Banken, die international operieren, beherrscht wird.
domradio.de: Wie passt das denn dann zusammen? Gauck war immerhin evangelischer Pastor?!
Pater Hengsbach: Man muss immer den konkreten Kontext sehen, aus dem die Menschen kommen, und ihr Erfahrungsmilieu. Gauck hat das Erfahrungsmilieu des real existierenden Sozialismus in sich aufgesogen. Er sieht natürlich immer den glänzenden Schein der Bundesrepublik, der aber in Wirklichkeit ein Glanz ist, hinter dem sich entregelte Arbeitsverhältnisse und zunehmende bzw. stabil gleichbleibende soziale Armut verbergen. Und beim Papst ist es genau umgekehrt: Der Papst kommt vom Ende der Welt, wie er sagt, nämlich aus Argentinien, aus einem Milieu von Armut und Ausgrenzung, und von daher kann er sagen: Ein Kapitalismus, der Menschen in diesem Maße ausgrenzt und die Verteilung von Einkommen und Vermögen systematisch so asymmetrisch gestaltet, der gefährdet Menschenleben. Dann kann Kapitlaismus töten.
domradio.de: Wie beurteilen Sie denn das Verhältnis von Wirtschaft und Politik in Deutschland?
Pater Hengsbach: Wir können sagen: Wenn eine Gesellschaft die Menschenrechte in einer Demokratie anerkennt, dann wird sie die Priorität des Staates, der Demokratie und auch der staatlichen Einrichtungen – also Justiz, Gesetzgebung und Exekutive – natürlich ganz anders gewichten als den Wettbewerb. Sie wird dafür sorgen, dass der Wettbewerb eingegrenzt wird, dass die Geldverfassung öffentlich organisiert wird und dass öffentliche Güter, da sie privatwirtschaftlich gar nicht bereitgestellt werden, vom Staat angeboten werden müssen; und schließlich wird sie anerkennen, dass der soziale Ausgleich durch den Markt ja überhaupt nicht zustande kommt. Der Markt ist nur idealtypisch ein Geschehen, ein Tausch auf gleicher Augenhöhe. In der Regel ist die Wirtschaft vermachtet, das erleben wir doch gegenwärtig auch – in der monetären Sphäre wie auch in der realwirtschaftlichen Sphäre. Die Lobbykräfte oder die wirtschaftlichen Kräfte üben doch einen ungeheuren Einfluss auf die Politik aus, wie wir das jetzt erleben, so dass die Politik eigentlich immer auch weithin hinter der Wirtschaft herläuft, wenn sie nicht, wie vermutlich jetzt gegenwärtig, viel stärker und selbstbewusster und robuster der Wirtschaft die Regeln setzt.
Das Interview führte Verena Tröster.