Caritas Ukraine hilft den Menschen nach den blutigen Unruhen

"Wir dürfen die Menschen in der Ukraine nicht allein lassen"

Nach der erzwungenen Machtübernahme in der Ukraine krempelt die Opposition im Eiltempo die politische Landschaft um. Der Leiter der Caritas Ukraine, Andrij Waskowycz, berichtet im domradio.de-Interview, was die Menschen jetzt brauchen.

Beten für die Opfer der Proteste in Kiew (dpa)
Beten für die Opfer der Proteste in Kiew / ( dpa )

domradio.de: Es ist ja relativ viel passiert, seitdem wir das letzte Mal gesprochen haben. Sind Sie denn erleichtert heute?

Waskowycz: Ja, wir sind natürlich erleichtert, dass das Blutvergießen ein Ende hat, dass dieser Terror gegen die Demonstranten ein Ende hat. Wir hatten in den letzten Tagen Staatstrauer in der Ukraine, in Kiew war das besonders bewegend. Tausende, Hunderttausende sind zum Maidan gekommen in den letzten zwei Tagen, um sich von den Getöteten zu verabschieden, von den Menschen, die hier als Helden des Maidan, als Helden im Kampf für die Freiheit der Ukraine, für eine demokratische Ausrichtung der Ukraine ihr Leben gelassen haben. Es kamen immer wieder Menschen auf den Maidan mit Blumen, mit Kerzen. Priester haben die Gedenkgottesdienste gehalten, ökumenische Gedenkgottesdienste, an denen die Orthodoxen, die griechisch-katholische Kirche, die römisch-katholische Kirche teilgenommen haben, auch lutherische Vereinigungen. Es waren sehr, sehr bewegende Momente, es gab immer wieder Schweigeminuten und immer wieder haben die Leute gerufen "Helden sterben nicht",  in dem Sinne, dass diese Helden im Gedenken der Menschen weiterleben werden.

domradio.de: Sie haben vor einigen Tagen schon hier im domradio erzählt, dass sie auch selbst immer auf dem Maidan waren, die Demonstranten mit Essen versorgt haben. Jetzt sind die Unruhen erstmal vorbei. Welche Hilfe brauchen die Menschen denn jetzt?

Waskowycz: Es ist eine große Solidarität in der Ukraine, um den Menschen zu helfen. Auch im Ausland sind bereits Spendenaufrufe ergangen, auch der deutsche Caritas-Verband hat Spendenaufrufe gemacht, um jetzt den Verwundeten und vor allen Dingen auch den Hinterbliebenen der Getöteten Hilfe zukommen zu lassen. Die Caritas Ukraine arbeitet an einem Programm und hat bereits mit der Realisierung dieses Programms begonnen, um den Leuten eine längerfristige Hilfe zu gewähren, um über diese schwierigen Zeiten hinwegzukommen. Wir planen, psychologische Dienste aufzubauen, die den Menschen helfen, ihre Traumata, ihre schweren Erlebnisse zu überwinden. Unter den Verwundeten sind Menschen, die langfristig geschädigt sind. Es sind Menschen, die ihre Arme, Beine oder ihr Augenlicht verloren haben. Das sind Verletzungen und Beeinträchtigungen, die ein Leben lang währen werden. Die Menschen brauchen medizinische Hilfe, sie brauchen Hilfe bei der Organisation und Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen, sie brauchen auch psychologische Hilfe, um über diese Traumata hinwegzukommen. Die Caritas Ukraine wird versuchen, diese Dienste aufzubauen, tritt bereits in Kontakt mit den Verwundeten, arbeitet mit den anderen medizinischen Strukturen in der Ukraine zusammen, um hier sehr effektiv und schnell Hilfe zu leisten. Außerdem werden wahrscheinlich die Menschen jetzt auch überfordert sein mit den Anfragen, die von allen Seiten auf sie zukommen. Es ist sehr wichtig, dass diese Menschen begleitet werden. Andererseits verstehen wir auch, dass jetzt die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf diese Menschen gerichtet ist, die die ersten Leidtragenden dieser Auseinandersetzung sind, die das größte Leid erfahren haben. Aber wie es in der menschlichen Gesellschaft immer ist: mit der Zeit werden diese Menschen weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit sein. Aber da will die Caritas mit diesen Menschen bleiben. Deswegen sind unsere Projekte, unsere Hilfsmaßnahmen langfristig angelegt. Wir wollen die Menschen auch weiterhin begleiten, wenn die Aufmerksamkeit etwas nachlässt. Denn dann wird es schwierig sein, sollten die Menschen allein gelassen werden. Das wollen wir verhindern.

domradio.de: Und auf der anderen Seite benötigt das Land natürlich auch gerade Hilfen finanzieller Art. Nach Angaben des Finanzministeriums benötigt die Ukraine rund 35 Milliarden Dollar an ausländischer Hilfe. Woran liegt das, daran, dass das Land stillstand in den vergangenen Tagen?

Waskowycz: Nein, das ist nicht ein Problem der vergangenen Tage, das ist ein Problem der vergangenen Jahre und ich würde sogar sagen, der vergangenen Jahrzehnte. Die Ukraine war oder ist bis heute ein hoch korrumpiertes Land, wo viele, viele Gelder aus dem Staat in dunkle Kanäle geflossen sind, wo ein korruptes Beamtentum das Sagen hatte und deswegen das finanzielle Aufkommen des Staatshaushaltes eigentlich zur Bereicherung einer kleinen Oberschicht beigetragen hat. Der größte Teil der Gesellschaft, der immer verarmte, war der Leidtragende. Bei  den Demonstrationen auf dem Maidan ging es nicht darum, nur einen Präsidenten Janukowitsch zu stürzen oder ihn zum Rücktritt zu zwingen, es ging darum, dem Land eine neue Entwicklungsmöglichkeit zu geben, um neue Prinzipien im Bau der Gesellschaft einzuführen. Prinzipien, die ähnlich sind auch der katholischen Soziallehre, Prinzipien wie Solidarität, wie Subsidiarität und Gemeinwohl, die in diese Gesellschaft eingeführt werden müssen. Eine neue Grundlage für die gesellschaftliche Entwicklung zu bilden. Dann kann auch die Wirtschaft sich weiterentwickeln. Heute ist es durchaus möglich, dass die Ukraine einen neuen Weg geht. Dazu braucht sie natürlich Finanzhilfen, aber es ist auch ganz wichtig, dass diese Finanzhilfen den Zielen zukommen, für die sie bestimmt sind und nicht in dunkle Kanäle verschwinden. Es ist ganz wichtig, dass die Korruption im Geiste des Maidan bekämpft wird.

Das Gespräch führte Verena Tröster.


Quelle:
DR