domradio.de: Lassen Sie uns vieleicht zunächst ganz kurz die politische Gemengelage abstecken, in die Präsident Gauck da hineinkommt. Die Regierung Erdogan hatte ja zuletzt wieder für Ärger gesorgt, als sie etwa den Kurnachrichtendienst Twitter blockierte, nach den Kommunalwahlen Ende März erklärte er sich zum indirekten Wahlsieger. Wie schätzen Sie das ein - wie fest sitzt Erdogan im Sattel?
Lale Akgün: Ich würde sagen, Erdogan sitzt ziemlich fest im Sattel, auch wenn er bei den Wahlen mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert worden ist, wenn er auch innerlich in der Partei sicherlich auch Gegner hat, aber im Moment sehe ich eigentlich niemanden, der ihm die Macht streitig machen könnte.
domradio.de: Am Sonntag lobte Gauck die türkische Flüchtlingspolitik. Heute will der Präsident Klartext sprechen in Sachen Menschenrechte und Minderheitenschutz - wie nötig ist das? Wie geht es den Minderheiten im Land?
Akgün: Es sieht im Moment ganz schlecht aus, was Freiheitsrechte, Individualrechte und den Rechtsstaat angeht in der Türkei. Erdogan zieht alle Macht immer mehr an sich. Die Möglichkeiten des einzelnen Bürgers und die Pressefreiheit werden immer mehr eingeschränkt und es macht sich eine Angstsituation in der Türkei breit, die auch den Leuten die Möglichkeit nimmt, sich zu artikulieren. In dem Zusammenhang sehe ich eigentlich die Rolle des Bundespräsidenten, nämlich den Menschen, die Angst haben ihre Meinung zu sagen, Mut zu machen und als Vorbote auch dessen zu sein, was Zivilcourage angeht.
domradio.de: Glauben Sie, dass Präsident Gauck mit seinen Mahnungen auf offene Ohren stoßen wird?
Akgün: Er wird auf offene Ohren stoßen, vorallem bei den jungen Leuten, bei den Oppositionellen, bei den Minderheiten. Er wird natürlich nicht bei Erdogan auf offene Ohren stoßen, im Gegenteil. Ich könnte mir vorstellen, dass Erdogan sich jede Kritik verbietet oder dass er sogar Bundespräsident Gauck auf eine ungewöhnliche Art antwortet. Aber davon sollte sich Gauck nicht erschrecken lassen. Sein Wort wird Symbolcharakter haben für all die Menschen, die im Moment nicht die Möglichkeit haben zu reden.
domradio.de: Wie wird denn über den Besuch berichtet werden? Werden dann kritische Töne auch an die große Öffentlichkeit gebracht werden?
Akgün: Das ist natürlich die ganz wichtige Frage, die meisten Zeitungen, Medien, auch Privatsender gehören Geschäftsleuten, die sich mit der Regierung, mit Erdogan nicht verderben wollen. Sie werden möglicherweise immer dann über den Besuch von Bundespräsident Gauck berichten, wenn er sich lobend äußert und nicht berichten, wenn er sich kritisch äußert. Es gibt aber auch kleinere Internetzeitungen, kleine private Sender, die zwar immer wieder verboten werden oder geschlossen werden, aber die werden darüber berichten und inzwischen sind ja die sozialen Medien wichtiger für die Veröffentlichung von Meinung als Fernsehsender und Zeitungen.
domradio.de: Könnte am Ende ein Signal von diesem Besuch ausgehen? Wenn ja, welches?
Akgün: Von diesem Besuch muss meiner Meinung nach ein Signal ausgehen, denn Bundespräsident Gauck ist ja in sehr schwierigen Zeiten in die Türkei gereist. Das bringen im Moment nicht viele Staatspräsidenten fertig. Die meisten wollen abwarten wie die Präsidentschaftswahlen in der Türkei ausgehen, wohin die Reise in der Türkei überhaupt geht, was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angeht und in dieser unübersichtlichen Zeit hat es Gauck fertig gebracht in die Türkei zu reisen. Deswegen kann das nicht nur ein Höflichkeitsbesuch sein. Wenn er den Mut aufbringt, in diesen Zeiten in die Türkei zu reisen, muss er auch den Mut aufbringen, seine Meinung zu sagen zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte. Das erwarten junge Menschen von ihm. Am meisten freue ich mich auf seine Ansprache am Nachmittag vor der Technischen Universität, das ist eigentlich das Herzstück des türkischen säkularen Widerstands gegen Erdogan. Dort wartet man auf Bundespräsident Gauck und seine Rede. Es wird den Leuten Hoffnung geben, dass sie nicht alleine sind. Jetzt kommt jemand, der eine andere Meinung vertritt, der anders mit Freiheit umgeht und das wird den jungen Leuten das Gefühl geben, ok, wir liegen nicht so falsch. Es gibt auch Menschen, die genau so denken wie wir und die es wagen, das auch öffentlich in der Türkei auszusprechen. Das wird ihnen eine Freude sein, dass jemand etwas ausspricht, was sie denken und dann fröhlichen Herzens weiterziehen kann - ohne Repressalien befürchten zu müssen, wie andere normale Bürger in der Türkei.
Das Interview führte Hilde Regeniter