Bundespräsident Joachim Gauck hat in der türkischen Hauptstadt Ankara ungewöhnlich deutliche Kritik an der politischen Lage in der Türkei geübt. Zugleich lobte er am Montag bei einer Rede an der dortigen Middle East Technical University die bereits erreichte wirtschaftliche und demokratische Entwicklung des Landes und würdigte die Hilfsbereitschaft der Türkei gegenüber syrischen Flüchtlingen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei seien noch nie so eng und vielfältig gewesen wie gegenwärtig, so Gauck.
"Große Besorgnis"
Als früherer DDR-Bürgerrechtler sehe er mit großer Besorgnis, wenn in einem Land Rechtsstaat, Gewaltenteilung und freie Meinungsäußerung beschränkt würden, sagte Gauck laut dem Redetext unter Hinweis auf die Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Er frage sich "ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken. Oder wenn sie danach trachtet, Urteile in ihrem Sinn zu beeinflussen oder umgekehrt ihr unwillkommene Urteile zu umgehen."
Erschreckende Einschränkung der Pressefreiheit
Deutliche Kritik übte der Bundespräsident auch an den von Erdogan angeordneten Zugangssperren zu Twitter und Youtube: "Diese Entwicklung erschreckt mich - auch und besonders, weil Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden." Zugleich würden kritische Journalisten entlassen oder verurteilt, Zeitungen mit Veröffentlichungsverboten belegt und Herausgeber juristisch unter Druck gesetzt. Umfassend zu informieren und umfassend informiert zu werden, seien grundlegende Voraussetzungen einer freien und demokratischen Gesellschaft. "Nur so können Missstände aufgedeckt und das Handeln der Regierenden einer Kontrolle unterzogen werden." Besorgt zeigte sich Gauck auch darüber, dass "Protest auf der Straße gewaltsam unterdrückt wird und Menschen dabei sogar ihr Leben verlieren."
Lob für Wirtschaftsaufschwung
Der Bundespräsident betonte, es gehe ihm nicht um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei. Aus ihm spreche "die Sorge eines Bürgers, der nach langjährigen Erfahrungen in einem totalitären Staat zu einem Anwalt der Demokratie wurde". Auch Deutschland habe die Kritik aus der Türkei nach den fremdenfeindlichen Morden der rechtsextremen Terrorgruppe NSU akzeptiert.
Gauck lobte andererseits die bereits erzielten Fortschritte der Türkei, darunter den rasanten Wirtschaftsaufschwung, den zurückgehenden politischen Einfluss des Militärs, die Entspannung gegenüber den Kurden oder die Anerkennung des türkischen Unrechts gegenüber den christlichen Armeniern. Der Bundespräsident hob auch die Leistungen der Türkischstämmigen in Deutschland hervor.
Die Türkei als Stabilitätsanker
Mit Blick auf die Lage in Syrien begrüßte Gauck die großen Anstrengungen der Türkei, um syrische Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen. Der Bürgerkrieg in Syrien zeige aber auch, dass die Türkei die westlichen Bündnispartner brauche, um nicht in den Strudel der Ereignisse in den Nachbarländern zu geraten, um weiter Investitionen ins Land zu holen und um ungestört in andere Länder exportieren zu können. "Eine Türkei, die sich selbst isolierte, würde sich selbst schaden." Umgekehrt brauchten Deutschland, Europa und die USA eine verlässliche Türkei als Stabilitätsanker in der ganzen Region.
Mit Blick auf die stockenden EU-Beitrittsverhandlungen sagte das Staatsoberhaupt: "Wir sollten jenen, die der wechselseitigen Entfremdung das Wort reden, keine Chance lassen. Das Interesse der Bürger aneinander ist ungebrochen - ja, es wächst sogar."