KNA: Pater Ferrero, Don Bosco ist unter den katholischen Heiligen einer der "Superstars". Was erklärt seine weltweite Verehrung und Bekanntheit?
Ferrero: Sogar Präsident Barack Obama hat bei einem Besuch in Brasilien Don Bosco zitiert. Seine anhaltende Wirkung liegt einmal darin, dass jedes Jahr Zehntausende Kinder und Jugendliche in unseren Einrichtungen betreut werden, eine Heimat finden, oft auch eine berufliche Ausbildung bekommen. Die verbinden ihr ganzes Leben lang mit dem Namen Don Bosco eine Art fürsorglichen Vater.
KNA: Und zum anderen?
Ferrero: ... war Don Bosco kirchenhistorisch eine revolutionäre Gestalt. Da würde ich ihn mit dem heiligen Franz von Assisi im Mittelalter vergleichen. Don Bosco hat der Kirche schon ein halbes Jahrhundert vor der Sozialenzyklika "Rerum novarum" von Papst Leo XIII. einen starken sozialen Impuls gegeben. Er forderte, dass sie auf das Massenelend in der Zeit der Industriellen Revolution stärker reagiert. Dass sie darin ihre wichtigste Aufgabe sieht. Vor ihm sah die Kirche ihre Verantwortung gegenüber Minderjährigen vor allem darin, ihnen den Glauben zu vermitteln. Don Bosco stellte ihre sozialen Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Wie Franz von Assisi - und wie der jetzige Papst - rief er in Erinnerung: Glaubensvermittlung geht nur durch tätige Nächstenliebe.
KNA: Viele halten ihn auch für einen revolutionären Pädagogen.
Ferrero: Das war er. Er war zwar nicht der erste, der erkannte, dass die Erziehung der entscheidende Schlüssel zur Veränderung der Welt ist. Aber er war einer der ersten, die sagten: Kein Kind wird böse geboren; der Mensch wird erst durch schlechte Erfahrungen, durch Not und die Zurückweisung durch die Gesellschaft böse. Hier setzte er als einer der ersten auf Prävention in der Erziehung.
Dabei stand für ihn das Glück des einzelnen Kindes im Mittelpunkt. Ihm waren fröhliche Kinder wichtiger als fromme. Ein geschützter Hof, auf dem sie spielen und toben konnten, zählte in seinen Häusern mehr als eine Kapelle für die Frühmesse. In einer Zeit, in der Drill und Gewalt auch in kirchlichen Erziehungseinrichtungen normal waren, predigte er eine Pädagogik der Liebe und des Respekts auch vor den Kleinsten.
KNA: Schwarze Pädagogik gab es aber in kirchlichen Heimen noch bis weit ins 20. Jahrhundert. Auch die Salesianer waren nicht unschuldig.
Ferrero: Da gibt es nichts zu beschönigen. Auch Salesianer haben gegen die Forderungen ihres eigenen Gründers verstoßen. Gewalt und sexueller Missbrauch in salesianischen Einrichtungen müssen ohne falsche Schonung aufgearbeitet werden. Das geschieht auch. Aber man muss die Relationen wahren. Und da überwiegt sicherlich das Engagement für Kinder und Jugendliche. Die Salesianer haben in puncto Missbrauchsskandalen kein Erdbeben erlebt.
KNA: Kritiker werfen Salesianern außerdem vor, sie hätten es lange an Respekt vor indigenen Kulturen fehlen lassen. Ist das übertrieben?
Ferrero: Es wurden in der Vergangenheit auch solche Fehler gemacht. Das war der Geist der Zeit. Die Missachtung der Herkunftskultur eines Jugendlichen wäre aber sicher nicht im Sinne Don Boscos gewesen. Er war alles andere als ein Kolonialist. In diesem Bereich ist die Sensibilität der Salesianer über die Jahrzehnte gewachsen. Inzwischen hat auch Papst Franziskus schon oft daran erinnert, dass Missionsarbeit da behutsam vorgehen muss und die richtige Inkulturation des Glaubens sehr wichtig ist.
KNA: Wie geht es den Salesianern heute? Leiden sie unter den typischen Ordensproblemen wie Nachwuchsmangel und Überalterung?
Ferrero: Ich habe den Eindruck, dass die Lage bei uns weniger dramatisch ist als bei manch anderen Orden. Die Anziehungskraft durch unseren Schwerpunkt auf dem sozialen Engagement bleibt stark; das schafft eine Dynamik. Das laufende Ordensjahr, das Franziskus ausgerufen hat, war eine gute Idee. Es trägt dazu bei, das Ordensleben nicht bloß als etwas Antiquiertes zu sehen.
KNA: Was würde Don Bosco zur Situation heutiger Kinder und Jugendlicher sagen?
Ferrero: Dass der Handlungsbedarf kaum kleiner geworden ist. In den Ländern der alten christlichen Welt grassieren Jugendarbeitslosigkeit und eine gewisse seelische und familiäre Verwahrlosung. In den armen Ländern werden junge Menschen massenhaft ausgebeutet. Sie haben nicht mehr Perspektiven als die verelendeten Jugendlichen der Industriellen Revolution. Das treibt die Migration an. Hier in Italien wird das eine immer größere Herausforderung, denn wir nehmen sehr viele junge Migranten auf. Wenn sich nichts ändert, sind unsere Häuser mit den jetzigen Mitteln irgendwann überfordert - zumal wegen der Wirtschaftskrise immer weniger Spenden fließen.
Das Interview führte Christoph Schmidt (KNA).