Nirgends ist die Zahl trinkender Schwangerer so hoch wie am Kap

Zum Alkoholiker geboren

Bei der Familiensynode blicken viele in Europa insbesondere auf wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle. Dass Familien in anderen Teilen der Welt zuweilen ganz andere Probleme haben, zeigt ein Beispiel aus Südafrika.

Autor/in:
Markus Schönherr
Alkoholkonsum stagniert / © Patrick Pleul (dpa)
Alkoholkonsum stagniert / © Patrick Pleul ( dpa )

Ihre Mutter war Alkoholikerin, genau wie ihr Vater. Als Anna Winstons Lippen zum ersten Mal ein Glas Wein berührten, war sie gerade fünf. Von klein auf hat sie gelernt, Schläge, Arbeitslosigkeit, ihr ganzes tristes Leben in Alkohol zu ertränken.

Viele Kinder leiden unter fetalem Alkoholsyndrom

Heute ist die Südafrikanerin 37 Jahre alt und selbst Mutter. Ihre Tochter leidet an fetalem Alkoholsyndrom (FAS) - einer Störung, die nach Alkoholkonsum während der Schwangerschaft auftritt und für die es keine Heilung gibt. Ihre Tochter leidet unter Gedächtnisaussetzern und Fehlbildungen. "Ich fühle mich elend, weil ich ihr das angetan habe", gesteht Anna Winston.

Etwa jeder 17. Südafrikaner leidet an FAS. Jedes Jahr kommen 72.000 Kinder dazu; das sind 100 Mal mehr als etwa in den USA. Die höchste FAS-Rate weltweit verzeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Weinbauregion rund um Kapstadt. Die Weine aus der südafrikanischen Provinz Westkap sind weltberühmt. Jedoch bergen sie eine dunkle Vergangenheit: FAS ist eng mit dem Weinbau verbunden.

Arbeiter bekommen Alkohol statt Lohn

Immer noch bedienen sich einige der Farmer des sogenannten Dop-Systems (Afrikaans für "Gläschen"), einer 400 Jahre alten Methode, um Sklaven und Arbeiter gefügig und alkoholabhängig zu machen. Statt Geld erhalten die Arbeiter süßen Wein als Lohn.

Offiziell wurde die Praxis vor mehr als 50 Jahren verboten und wird heute mit umgerechnet 66.000 Euro Strafe belegt. Tatsächlich greifen viele Landwirte auf Schlupflöcher zurück, verkaufen billige Spirituosen in der farmeigenen Taverne auf Kredit. "Trinken ist Teil des Arbeiterlebens auf einer Farm", weiß Susan Levine, Anthropologin an der Universität Kapstadt.

Studien zufolge schadet Alkohol während der Schwangerschaft dem ungeborenen Kind mehr als Marihuana. Eine Folge sind irreparable Organschäden. Kinder mit FAS sind durch kleine Statur und fehlgebildete Nasen, Ohren oder Augen gezeichnet. Sie leiden an Lernschwächen und Aufmerksamkeitsdefizit, sind hyperaktiv und aggressiv. Schon kleine Reize wie Licht oder ein Radio können bei ihnen Panik auslösen.

Gravierende soziale Folgen

Die sozialen Folgen sind teilweise noch unerforscht. Viele der betroffenen Kinder sind sich nicht bewusst, dass ihrer Lernschwäche eine alkoholbedingte Störung zugrunde liegt. Weil Diagnose und Behandlung in Südafrika sehr eingeschränkt sind, sei ungewiss, wie viele psychiatrische Patienten und Gefängnisinsassen tatsächlich unter FAS litten, berichtet die Zeitung "Cape Times". Denis Viljoen, Genforscher in Kapstadt, gründete 1997 die "Foundation for Alcohol Related Research", nachdem jeder zehnte seiner jungen Patienten an FAS litt: "Damals erkannten wir, dass FAS verbreiteter war als angenommen. Die öffentliche Wahrnehmung wuchs erst mit unserer Forschung."

Viele Familien in Südafrika zerbrechen an den Folgen von FAS. Wie die der zwölfjährigen Sipho. Die junge Kapstädterin konnte viele Jahre nicht sprechen. Von ihrer Schule wurde sie als "unbeschulbar" eingestuft. Erst als sie von ihrer alkoholkranken Mutter getrennt wurde, lernte sie in der Obhut einer Pflegefamilie, Englisch und Afrikaans zu sprechen.

Schleppende Regierungsmaßnahmen

Die Regierung antwortet nur langsam auf das soziale Problem. In einem Pilotprojekt sollen Farmarbeiter nun regelmäßig auf ihren Alkoholkonsum getestet werden. Ein Lehrplan für FAS-Kinder fehlt jedoch nach wie vor - und das, obwohl in den Weinbaudörfern am Kap bis zu zwölf Prozent der Schüler an der Störung leiden. Lehrer sind mit Klassen von 40 Schülern überfordert. Der Unterricht von FAS-Kindern bleibt wenigen Nichtregierungsorganisationen überlassen.

Genforscher Vilojen pocht auf eine staatliche Intervention - denn neue Forschungsergebnisse legten nahe, dass das Problem womöglich weitreichender ist als gedacht: "Wir verzeichnen eine wachsende Zahl an FAS-Kindern aus mittleren und höheren sozioökonomischen Schichten." Immer öfter sei FAS auch in Vororten Johannesburgs anzutreffen; etwa, wo junge Mütter von ihren Männern verlassen werden oder ihren sozialen Rückhalt verlieren.

 


Quelle:
KNA