domradio.de: Grundlage für die ARD-Recherchen waren Videoaufnahmen, auf denen laut Human Rights Watch eine solche Abschiebung syrischer Flüchtlinge zu sehen ist. Was sind das für Videoaufnahmen? Wie sicher sind die?
Wenzel Michalski (Deutschlanddirektor von Human Rights Watch): Die sind sehr sicher. Meine Kollegen haben natürlich überprüft, woher die kommen, haben mit denjenigen, die die Aufnahmen gemacht haben, gesprochen. Wir von Human Rights Watch haben uns zur Aufgabe gemacht, nur das zu veröffentlichen, von dem wir auch hundertprozentig sicher sind, dass es stimmt. Sonst würden wir es einfach nicht an die Öffentlichkeit bringen.
domradio: Was passiert nach ihren Erkenntnissen denn mit den syrischen Flüchtlingen in der Türkei genau?
Michalski: Sie werden gefangengenommen, werden wie Kriminelle eingesperrt und dann abgeschoben - zum Teil massenweise über die Grenze nach Syrien, wieder zurück in das Land, aus dem sie geflüchtet sind. Dort laufen sie Gefahr, getötet zu werden. Wenn sie zum Beispiel als politische Flüchtlinge vor dem Assad-Regime geflohen sind, werden sie dem Regime so wieder ausgeliefert. Wenn sie vor den IS-Terroristen geflohen sind, werden sie denen wieder ausgeliefert. Eine Praxis, die Deutschland offiziell nicht vertritt. Syrische Flüchtlinge oder Migranten, die hier sind, werden - auch, wenn man keinen Asylgrund erkennen kann - aus Sicherheitsgründen nicht nach Syrien abgeschoben. Das entspricht auch der Genfer Konvention und den deutschen Gesetzen. Aber die Türkei macht das. Wir haben die Beweise. Amnesty International hat auch schon ähnliche Beweise geliefert - und jetzt eben auch das WDR-Magazin Monitor. Insofern ist das eine illegale Praxis, die wir dort sehen, und die EU schaut weg.
domradio.de: Die EU sagt aber: 'Die Türkei hat uns zugesichert, es werden keine syrischen Flüchtlinge abgeschoben.' Darauf beruft sich die EU immer noch. Was sagen Sie dazu?
Michalski: Das ist einfach falsch. Das ist entweder den Kopf in den Sand stecken oder bewusstes Ignorieren. Es ist eine zynische Haltung. Die EU hat leider eine Tradition, zwar selbst zu versuchen, Menschenrechte zu realisieren, aber sich nicht darum zu scheren, wenn Menschenrechte woanders missbraucht werden - auch zu ihren "Gunsten". Wir haben das vor einigen Jahren erlebt, als Gaddafi in Libyen noch an der Macht war. Damals hat die EU mit ihm einen Deal gemacht, dass er Flüchtlinge mit Gewalt zurückhält. Da wurden Flüchtlingsboote beschossen und versenkt. Gefangene Flüchtlinge wurden in der Wüste ausgesetzt. All solche schrecklichen Geschichten sind passiert, damit die EU unbehelligt von Zuwanderung ist.
domradio.de: Viele verantwortliche EU-Politiker sagen natürlich jetzt: 'Um die Flüchtlingskrise hier bei uns in den Griff zu bekommen, sind wir dringend auf die Türkei angewiesen.' Glauben Sie, dass man deshalb bereit ist, große Kompromisse einzugehen, auch in solchen sehr, sehr heiklen Menschenrechtsfragen?
Michalski: Wir sehen das ja jetzt: Die EU-Politik ist ja mit diesem Thema schon konfrontiert worden. Das ist nicht gestern passiert, sondern wir beobachten das mittlerweile seit ein paar Monaten. Man redet sich jetzt raus bei der EU: 'Wir haben ja noch keine Beweise, wir haben das noch nicht selber nachgeprüft.' Das kann man natürlich ewig so weitertreiben. Tatsache ist, wir haben schon im Dezember Beweise geliefert. genauso wie Amnesty. Insofern weiß man da Bescheid. Man muss da nur hingehen und sich das angucken. Es gibt Aussagen von Flüchtlingen, auch vor Kameras - Monitor zeigt das jetzt und die Tagesschau hat es auch schon gezeigt. Die EU-Politik möchte das auf Teufel komm 'raus nicht sehen und sich dazu nicht äußern, weil sie alles tut - und da ist dann anscheinend auch alles erlaubt - damit bloß nicht noch mehr Flüchtlinge hier nach Europa kommen.
domradio.de: Was meinen Sie, was steckt hinter dem Verhalten der Türkei? Warum schiebt sie überhaupt die Syrer wieder nach Syrien zurück?
Michalski: Die Türkei ist kein Rechtsstaat in unserem Sinne. Menschenrechte gelten dort nicht so viel und es gibt dort keine wirkliche Flüchtlings- und Asylpolitik. Das heißt also, die machen, was ihnen gefällt. Das ist sehr willkürlich zum Teil. Die Türkei hat schon Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Und wenn die EU ihnen Geld gibt und sagt: 'Halt uns die Flüchtlinge vom Hals', dann sehen die das als 'Carte Blanche' und machen, was sie wollen. Insofern ist die Türkei kein verlässlicher Partner, um das Flüchtlingsproblem zu managen.
domradio.de: Glauben Sie, dass die Tatsache, dass der Attentäter von Istanbul offensichtlich als syrischer Flüchtling in die Türkei eingereist war, jetzt in dieser Diskussion eine Rolle spielen könnte?
Michalski: Das glaube ich nicht. Das kann man ja übrhaupt nicht verhindern. Wir sehen ja auch, dass Flüchtlinge, die abgeschoben werden, wieder zurück kommen. Sie nehmen sich einen neuen Schmuggler, zahlen eben noch mehr Geld und versuchen dann anders über diese lange, lange Grenze zwischen Syrien und der Türkei zu kommen. Das wird man nie verhindern können, auch nicht mit einer extrem restriktiven Flühtlingspolitik. Selbst, wenn man einen Zaun baut, wird man nicht verhindern können, dass irgendwelche IS-Terroristen nach Europa kommen oder in der Türkei verheerende Anschläge verüben. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
domradio.de: Was ist denn jetzt Ihre Forderung an die EU? Was muss aus den Fällen, die sie da anzeigen, für die Zusammenarbeit mit der Türkei folgen?
Michalski: Per se ist erstmal eine Zusammenarbeit mit einem Drittstaat in Ordnung. Aber es muss alles nach rechtsstaatlichen Prinzipien und nach den Maßstäben des Menschenrechts funktionieren. Es kann nicht sein, dass wir Menschenrechtsverletzungen tolerieren, um uns die Flüchtlinge vom Hals zu halten. Das bedeutet, dass wir einen ordentlichen Registrierungsprozess brauchen, der fair ist und nach internationalen Gesetzen funktioniert. Und dass dieser Prozess auch schnell vonstatten geht und Menschen nicht ewig und drei Tage wie Gefangene in irgendwelchen geschlossenen Lagern vor sich hin darben.
Das Interview führte Hilde Regeniter.