Holocaust-Überlebende Ruth Klüger spricht im Bundestag

Immer auf gepackten Koffern

Die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger ist am Mittwoch zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Gastrednerin vor dem Bundestag. Im Interview spricht sie über die deutsche Erinnerungskultur, den Glauben und die Rolle des Zufalls im Leben.

Autor/in:
Leticia Witte
Ruth Klüger / © Michael Reichel (dpa)
Ruth Klüger / © Michael Reichel ( dpa )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Frau Klüger, welche Bedeutung hat es für Sie, dass Sie bei dem Gedenken im Bundestag sprechen werden?

Ruth Klüger (Schriftstellerin und Auschwitz-Überlebende): Der Auftritt als solcher ist mir insofern sehr lieb, als dass ich sehr beeindruckt bin von der Aufnahmebereitschaft Deutschlands für die Flüchtlinge. Ich weiß, dass es Schwierigkeiten und Ärgernisse gibt. Im Großen und Ganzen ist es doch so, dass sich da etwas radikal geändert hat.

Es gab eine Zeit, als meinesgleichen, also die Juden, ausgestoßen oder getötet wurden in diesem Land. Und plötzlich ist da eine Regierung, die Flüchtlinge, die in Lebensgefahr sind, aufnimmt. Das beeindruckt mich sehr. Eine Rede vor dieser Regierung halten zu können, nicht irgendeiner, sondern dieser, mit Herrn Gauck und Frau Merkel, das ist mir eine Ehre.

Ich bin 84 Jahre alt, und dass ich jetzt überhaupt noch für eine Woche nach Berlin fahre, ist schon eine Anstrengung. Das tut man nur, wenn es der Mühe wert ist. Ich war während der Wende in Göttingen - dieses Hochgefühl, dass etwas ganz Neues kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass da jetzt etwas Ähnliches ist in Deutschland. Das möchte ich erleben.

KNA: Worüber werden Sie im Bundestag sprechen?

Klüger: Das Thema ist Zwangsarbeit. Ich spreche von meiner eigenen Erfahrung als Zwangsarbeiterin. Ich war damals noch ein Kind, aber ich war tatsächlich in einem Arbeitslager. Das hat mir das Leben gerettet. Dann spreche ich noch über ein Thema, das meistens übersehen wird, und das ist Zwangsprostitution. Am Ende ein paar Worte meiner bescheidenen Anerkennung dafür, was in Deutschland vor sich geht, also was auf der positiven Seite vor sich geht.

KNA: Sie meinen die Flüchtlingspolitik?

Klüger: Ich lebe in Amerika, ich kann diese Politik nicht im Einzelnen beurteilen, und ich lasse mich auch auf keine Einzelheiten ein. Ich weiß nur, dass in Amerika und auch anderswo viel Bewunderung für diese Politik besteht, für die Hilfsbereitschaft. Und das ist das Neue in der Einstellung des Auslands zu Deutschland. Im Allgemeinen hat Deutschland den schlechten Ruf, den es in der Nazizeit erworben hat, nie überwunden.

KNA: Es gibt Ängste in Deutschland, dass wegen der Flüchtlinge ein neuer Antisemitismus aufkommen könnte. Sehen auch Sie diese Gefahr?

Klüger: Antisemitismus hat es seit Jahrhunderten gegeben, und manchmal wird er von verschiedenen Religionen gestärkt, wobei der Islam nicht die erste und nicht die einzige ist. Das Wichtige war immer, dass die Regierungen dagegen ansteuern. In Amerika gibt es auch Antisemitismus, aber er wurde nie von der Regierung befeuert.

Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Amerika und Europa. Aber wahrscheinlich ist es gerechtfertigt, dass man ein Auge auf möglichen Antisemitismus unter den Flüchtlingen haben muss. Aber eine ganze Bevölkerungsgruppe wegen ihrer Religion zu verurteilen oder auch zu beargwöhnen, läuft gegen die Prinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft.

KNA: Können Sie verstehen, dass es Juden gibt in Deutschland, die sich mit dem Gedanken tragen, auszuwandern?

Klüger: Ja, absolut verstehe ich das, natürlich. Aber in Frankreich ist es auch so, noch stärker. Dort wandern gelegentlich wirklich Juden aus. Allerdings nicht so viele, wie manchmal geunkt wird. Irgendwie kommt es mir wie etwas Grundjüdisches vor, immer auf den Koffern zu sitzen. Juden sind seit Jahrhunderten immer ausgewandert, bis natürlich Israel kam. Und Israel hat seine eigenen Probleme mit Antisemitismus.

KNA: Wo steht Deutschland allgemein beim Thema Antisemitismus?

Klüger: In gewissen Bevölkerungsgruppen ist er ja stark, und in anderen schwelt er so vor sich hin. In vielen hat er überhaupt nicht aufgehört. Wenn Sie schon von der Verbindung zwischen Religion und Antisemitismus sprechen, kann man ruhig das Christentum mit einbeziehen, auf seine Weise.

KNA: Beobachten Sie beim Holocaustgedenken in Deutschland eine echte Auseinandersetzung mit dem Thema?

Klüger: Damit habe ich mich in meinem Buch "weiter leben. Eine Jugend" auseinandergesetzt. Da war ich ziemlich negativ und habe auch Zweifel angedeutet wegen der Besuche von Schulkindern in Gedenkstätten und so weiter. Ich habe meine Meinung zu einem gewissen Grad geändert. Viele der Gedenkstätten werden sehr gut gemacht. Und auf jeden Fall ist Deutschland das Land, das seine, um es gelinde auszudrücken, unschöne Vergangenheit mehr als jedes andere Land aufgedeckt hat und versucht, sich damit auseinanderzusetzen.

KNA: Wie war das bei Ihnen, wie haben Sie über Ihre Leidenszeit in der NS-Zeit gesprochen?

Klüger: Mit meiner Mutter habe ich nie darüber gesprochen. Und auch sonst wenig. Aber ich hatte immer das Gefühl, ich muss mal drüber schreiben. Es hat aber lange gedauert, bis ich mich aufgerafft habe. Es war leichter zu schreiben, als darüber zu sprechen.

KNA: Und jetzt im Bundestag?

Klüger: Der Großteil sind meine eigenen Erlebnisse. Ich war zwölfeinhalb Jahre alt, als ich in diesem Arbeitslager war und hatte behauptet, ich wäre 15. Was mich gerettet hat, war die Lüge. Das war in Auschwitz. Der Transport, mit dem ich von Theresienstadt gekommen bin, wurde ein paar Tage nach unserer Verschickung ins Arbeitslager vergast. Es war also im letzten Moment. Ich galt als jemand, die arbeitsfähig ist. Frauen von 15 bis 45 wurden gesucht. Da war eine Schreiberin, die mich gefragt hat, als ich in der Schlange stand: "Wie alt bist du?" Ich habe gesagt: "13" - und habe mich schon ein Jahr älter gemacht. Und sie hat gesagt: "Sag' ihnen, du bist 15". Das ist merkwürdig, ich denke oft daran. Wenn man einem so geringen Zufall das Leben verdankt, dann stellt man sich Fragen über Schicksal und Vorsehung und dergleichen. Und bei mir kommt meistens dabei heraus: Alles ist der reine Zufall.

KNA: Wenn Sie das so sagen, sind Sie eigentlich gläubig?

Klüger: Das hat sich irgendwie verflüchtigt. Ich bin nicht gläubig. Als ich Kind war - und auch als junges Mädchen - habe ich schon an Gott geglaubt. Er ist immer abstrakter geworden, und dann eines Tages war er nicht mehr da.

KNA: Hat das mit Auschwitz zu tun?

Klüger: Ich glaube, ich wäre auch so Atheistin geworden. Es ist der Hintergrund des aufgeklärten Judentums, der da mitspielt, und den ich sehr bejahe. Das ist die Tradition, in der ich mich sehe. Ich sehe immer wieder, dass Religion sehr viel Gutes stiften kann, aber auch Böses. Daran will ich nicht teilhaben.

KNA: Welche literarischen Projekte verfolgen Sie gerade?

Klüger: Ich bleibe immer wieder stecken in einem Roman, den ich schon eine geraume Zeit lang schreiben will. Er handelt von drei Frauen in verschiedenen Altersgruppen, die gerne Glücksspiele spielen. Sie fahren nach Las Vegas. Es ist eine Meditation über den Zufall.


Quelle:
KNA