"Integration der Sehnsüchte"

Warum Karneval mehr als nur feiern ist

Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch die Karnevals- oder Faschingszeit. Der Kölner Psychotherapeut und Karnevalsexperte Wolfgang Oelsner über die Bedeutung solch einer Ritualisierung des Jahreslaufes

Karneval Kuss / © dpa
Karneval Kuss / © dpa

KNA: Herr Oelsner, zum Jahreslauf gehören wiederkehrende Festzeiten - so auch Fastnacht, Fasching, Karneval. Welche Rituale kennzeichnen die fünfte Jahreszeit?

Wolfgang Oelsner (Psychotherapeut und Karnevalsexperte): Merkmale sind die Geselligkeit, das gemeinsame Singen, das Pflegen der Regionalsprache und natürlich das Verkleiden, das Schlüpfen in eine andere Rolle. Das Ganze wird - muss man nicht gut finden, ist aber so - befeuert durch Stimulanzien wie Alkohol; aber auch das Gruppenerleben kann sehr belebend wirken.

KNA: Rituale bedienen immer eine Sehnsucht - welche Sehnsucht sprechen die närrischen Tage neben dem Gemeinschaftsgefühl noch an?

Oelsner: Feste, die sich jahrhundertelang gehalten haben und immer noch ausweiten, bedienen unsere seelischen Bedürfnisse. Ein Grund: In solchen Festen stellt sich uns die Welt vereinfacht dar. Grenzen erscheinen leichter überwindbar, Widersprüchlichkeiten schneller zu integrieren. Beispielsweise haben Menschen die Sehnsucht nach Beständigkeit und Heimat. Andererseits sehnen wir uns nach Exotik, nach Wandel Fasching, Fastnacht und Karneval bieten eine Integration dieser Sehnsüchte: Als Gaucho verkleidet singt man dann, wie schön es in der Heimat ist. Wir erleben einen Perspektivwechsel, ohne dass Konsequenzen in der Realität zu fürchten wären. Was verrückt erscheint, ist zugleich recht weise: Die Ordnung wird aufgelöst - aber innerhalb fest gefügter Spielregeln. Rituelle Verankerungen, wie sie der christliche Jahreskreis dem Karneval vorgibt, sorgen für eine wichtige Balance zwischen Flieh- und Haltekräften.

KNA: Rituale stiften Sinn - was ist der Sinn von Unsinn?

Oelsner: Man lernt die Realität und das Unabänderliche neu zu sehen und zu gewichten. Man experimentiert wie ein Kind: Was wäre denn, wenn ich die üblichen Regeln fallen lassen würde, die mich sonst beherrschen und auch einengen? Damit meine ich weniger die äußeren Konventionen - da wünscht sich mancher derzeit eher stabilere Verbindlichkeiten - als mehr die eigene innere Festgefahrenheit. Im Idealfall merkt man beides: wie schön es ist, ungebunden zu sein. Und zugleich spürt man, dass das alleine auf Dauer weder gemeinschafts- noch kulturbildend sein kann. Narren freuen sich auf die tollen Tage.

Nicht wenige aber sind ebenso froh, dass der Alltag ab Aschermittwoch wieder nach festen Regeln läuft. So kann man die Ordnung neu wertschätzen lernen - und manchmal dennoch etwas aus der "Anderswelt" mitnehmen. Wenn die katholische Kirche das Narrentreiben die Jahrhunderte über tolerierte, gab sie sich psychologisch weise: Narrheit wurde demonstriert - um sie zu überwinden!

KNA: Warum hat es eine so befreiende Wirkung, einmal etwas Verrücktes zu tun?

Oelsner: Angestaute Gefühle immer zu unterdrücken, macht krank. Menschen bekommen psychosomatische Beschwerden, wenn sie ihre Emotionen dauerhaft nicht rauslassen - der Karneval bietet dafür ein mögliches Ventil. Allerdings ist auch ein zusätzlicher Gedanke erlaubt: Gefühle immer und zu jeder Zeit rauszulassen - das ist krank. Deshalb ist Aschermittwoch wichtig, nicht nur als Datum, auch als Zeichen.

KNA: Rituale müssen gepflegt, aber auch hinterfragt werden. Längst wird Karneval nicht nur in der fünften Jahreszeit gefeiert - es gibt Comedyshows, Klamauk beim Junggesellenabschied und vieles mehr. Brauchen wir das Fest überhaupt noch?

Oelsner: Mit der Karnevalisierung des Alltags kann das Fest in der Tat etwas von seiner Kraft verlieren. Wenn wir Sommer- oder Ganzjahreskarneval zulassen, dann nehmen wir uns etwas. Es ist in freien Gesellschaften zwar durchaus selbstverständlich, dass sich ausgelassene Feiern nicht starr nach dem Kalender richten. Aber Karneval ist mehr als die Addition karnevalesker Elemente. Vielleicht ist das Wort Gesamtkunstwerk ein sehr großes, aber das Fest hat was von dem.

KNA: Inwiefern?

Oelsner: Jugendliche sagen mir manchmal, wie bescheuert sie sich vorkommen, wenn sie etwa im September auf dem Weg zu einer Mottoparty mit ihrem Kostüm in der U-Bahn sitzen - und alle anderen normal gekleidet sind. Es ist ein ganz anderes Gefühl, wenn sich in der fünften Jahreszeit die ganze Stadt kostümiert. In Köln beispielsweise ist am Rosenmontag die Innenstadt in einem anderen Zustand: Ampelschaltungen sind teils ausgesetzt, Geschäfte schließen - die ganze Stadt ist wie verkleidet. Dieses Gefühl des Kollektivs können Mottopartys und Junggesellenabschiede nicht bedienen.

KNA: Muss sich der Karneval verändern?

Oelsner: Man muss gucken, inwieweit das Fest die Substanz hat zu bestehen. Wenn sich "an den tollen Tagen" die einen zum Skiurlaub verabschieden und die anderen als Tourist mit der Pappnase einfliegen, dann fehlen dem Fest die Gestalter. Bräuche brauchen auch Einheimische, die sie Nachkommenden und Gästen "verdolmetschen". Karneval ist schließlich kein Fest, das von oben verordnet wird.

Goethe hat treffend gesagt: "Karneval ist ein Fest, das dem Volk nicht gegeben wird, sondern dass das Volk sich selbst gibt". Aber "das Volk" ist eine zunehmend buntere Truppe. Vielleicht gibt es sich eines Tages andere über das ganze Jahr verteilte Feierformen. Noch gelingt es dem Karneval, viele Menschen zu binden und zu begeistern. Aber wer will, dass das so bleibt, muss etwas dafür tun.

KNA: Was sagen Sie Menschen, denen nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht Karneval jetzt möglicherweise Angst macht?

Oelsner: Sie sollten dieses Gefühl in sich akzeptieren. Wer es aber offensiv angehen will, wird sich in einer Gemeinschaft leichter tun und bei Thomas Bernhard ein passendes Zitat finden: "Der Witz gibt der Angst die Würde zurück." Volksfeste können gerade in Krisen zeigen, dass sie eine lebensbejahende Substanz haben.


Karneval gechminktes Gesicht / © dpa
Karneval gechminktes Gesicht / © dpa
Quelle:
KNA