Moraltheologe zur Schuldfrage nach dem Zugunglück von Bad Aibling

"Gott kann einen neuen Anfang setzen"

Das Zugunglück von Bad Aibling geht nach Angaben der Ermittler auf menschliches Versagen des Fahrdienstleiters zurück. Wie geht ein Mensch mit mit dieser Schuld um? Anworten gibt der Moraltheologe Peter Schallenberg im domradio.de-Interview. 

Blumen und Kerzen für die Opfer des Zugunglücks / © Matthias Balk (dpa)
Blumen und Kerzen für die Opfer des Zugunglücks / © Matthias Balk ( dpa )

domradio.de: Elf Menschen sind gestorben, das heißt, der Fahrdienstleiter, der sich jetzt erstmal aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, hat durch sein Versagen schwere Schuld auf sich geladen. Das muss man ja einfach so deutlich sagen, oder?

Professor Peter Schallenberg (Moraltheologe): Das muss man so sagen. Wobei man sofort hinzufügen kann, dass man unterscheiden kann zwischen objektiver und subjektiver Schuld. Also ein Faktum hat objektiv stattgefunden aber die zweite Frage, die sich erhebt, weil wir es mit Menschen zu tun haben, ist die nach dem subjektiven Verschulden und der Schuldfähigkeit. Das mindert nichts an dem Faktum selbst und auch an dem Leid der Angehörigen, aber dennoch gilt es, diese Unterscheidung auch in den Blick zu nehmen.

domradio.de: Also er hat ja nicht vorsätzlich gehandelt, das macht einen großen Unterschied.

Schallenberg: Das macht einen Unterschied aus, natürlich. Darüber wird im Straftrecht ja nachgedacht. Vorsätzlichkeit, ein Wille zum Bösen - das wird vom Strafrecht her untersucht. In der Moral beschäftigen wir uns ja eigentlich eher mit den inneren Beweggründen eines Menschen, während das Strafrecht versucht, äußere Tatbestände einzufangen. Da geht es auch um Vorsatz bis hin zum heimtückischen Vorsatz, was hier natürlich nicht der Fall ist. Nur, um deutlich zu machen, dass das Strafrecht auch versucht, in das Innere eines Menschen hineinzublicken. Ansonsten bleibt es in dem, was wir in der Tradition "Forum externum" nennen - als den äußeren Bereich. Der wird vom Strafrecht abgeschritten. In der Moral bis hin zum Beichtstuhl versuchen wir, das Innere eines Menschen in den Blick zu bekommen: Wie konnte das passieren, was passiert ist? In diesem Falle ist es wahrscheinlisch relativ einfach auf den Punkt zu bringen, dass er - so vermuten wir jedenfalls nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen - vermutlich aus Versehen, aus Nachlässigkeit, vielleicht aus Müdigkeit ein falsches Signal gegeben hat und damit schwere Schuld auf sich geladen hat, obwohl er das vermutlich nicht wollte.

domradio.de: Wie kann denn jemand, der so etwas getan hat, damit umgehen? Er wird diese Schuld ja ein Leben lang mit sich herumtragen müssen?

Schallenberg: Genau das ist eigentlich die entscheidene Frage, die nochmal hinter dem Strafrecht steht. Wir versuchen ja, in unserem Staat alles unter Artikel 1 unseres Grundgesetzes zu behandeln: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und da geht es um die Würde von sehr unterschiedlichen Menschen, also - heruntergebrochen auf diese konkrete Situation - um Menschen, die schweres Leid erfahren haben, deren Angehörige umgekommen sind durch das Verschulden eines anderen Menschen, der aber genauso seine Würde hat. Das ist der springende Punkt unseres Grundgesetzes. Diese Würde des Menschen ist unantastbar, auch dann, wenn jemand schwere Schuld auf sich lädt und sogar, wenn er schwere Schuld mit Vorsatz auf sich geladen hätte, was in diesem Fall vermutlich nicht so ist. So dass wir also die Menschenwürde herunterbrechen müssen auf diesen konkreten Fall fragen müssen: Wie können wir versuchen, Unrecht wieder gut zu machen und wie können wir dem, der etwas getan hat, was zum Tod von Menschen führt, dabei helfen, dass er weiterleben kann? Und da endet im Grunde das Strafrecht und beginnt die Moral. Und damit beginnt auch das, was wir kirchliches Handeln nennen, also im weitesten Sinne Seelsorge. Und da kommt das Stichwort Vergebung ins Spiel.

domradio.de: Glauben Sie, dass Angehörige der verstorbenen Opfer es schaffen können, zu verzeihen?

Schallenberg: Das ist eine schwierige Frage. Ich kann mich über einen Bericht zu einem Missbrauchsfall erinnern, der vor Jahren in der Zeitung stand. In der letzten Verhandlung, als das Urteil gegen den Täter erging, der das Kind auch getötet hatte, hat der Richter die Eltern gefragt: Könnten Sie dem Täter vergeben? Die Frage steht im Grunde hinter unserem gesamten Strafrecht. Das Strafrecht kann gerade im Falle von Todesfällen niemanden lebendig machen. Es kann versuchen - das war früher der beherrschende Gedanke - zu sühnen. Der Gedanke steht bei uns heute nur noch sehr wenig im Vordergrund. Wem wird damit geholfen, dass ein anderer schwer bestraft wird? Außerdem kann das Strafrecht versuchen, Umkehr zu erwirken, bei dem, der etwas getan hat. Es kann die Schwere der Tat vor Augen führen, es kann versuchen zu bessern, zu resozialisieren. Es kann im Grunde nichts wieder auf den alten Stand zurückbringen. Aber der Gedanke der Vergebung ist ja, dass eine Gabe gegeben wird, also die Gabe des Neuanfangs. Und dahinter steht die Überzeugung der Kirche, dass Gott einen neuen Anfang setzen kann. Vergebung heißt ja nicht einfach, dass die Kirche oder sonst irgendein Verein erklärt: Das war nicht so schlimm. Sondern Vergebung heißt im christlichen Verständnis, dass die Kirche im Namen Gottes sagt: Ich gebe einen neuen Anfang; denen, die schweres Leid erfahren haben wie auch denen, die schweres Leid verursacht haben. Das ist im Letzten für Nicht-Gläubige wahrscheinlich ein Märchen, oder - etwas vornehmer ausgedrückt - eine sehr, sehr geheimnisvolle Sache. Aber wenn man sich erinnert, dass Eltern versuchen, Kindern immer wieder einen neuen Anfang zu geben, auch wenn sie etwas Schlimmes getan haben, dann kommt man vielleicht dem Gedanken näher, dass es sein könnte, dass Gott einen neuen Anfang schenkt.  Wir als Christen sind überzeugt, dass das so ist. Diese Überzeugung bündelt sich im Begriff Menschenwürde und steht im Hintergrund unseres Strafrechtes. Wir sind nicht einfach ein kalter Rechtsstaat, sondern mit der Überzeugung ausgestattet, dass es Vergebung geben muss. Und dass man auch Angehörigen den Gedanken nahebringen muss: Wäre Euer Leben nicht besser, wenn Ihr Euch mit dem Gedanken der Vergebung anfreunden könntet?

Das Interview führte Verena Tröster.


Quelle:
DR