Für Pietro Bartolo muss es eine seltsame Situation gewesen sein: Dort zu stehen, wo nur zwei Tagen zuvor noch die Regisseure Joel und Ethan Coen, George Clooney, Tilda Swinton und andere Hollywoodstars standen - im Pressezentrum der Berlinale, im Blitzlichtgewitter der Kameras und im Fokus der Aufmerksamkeit der internationalen Presse.
Pietro Bartolo ist kein Filmstar, sondern Arzt. Er arbeitet auf Lampedusa, auf jener italienischen Insel, auf der das Phänomen "Flüchtlingskrise" nichts Akutes ist, sondern schon seit gut zwanzig Jahren ein Teil der Lebenswirklichkeit, mit der sich die Bewohner tagtäglich arrangieren müssen.
Auszeichnung durch Menschenrechtler
Für Bartolo, der hautnah mit dem Elend der übers Meer nach Europa geflüchteten Menschen konfrontiert wird, ist "arrangieren" vielleicht das falsche Wort. Es gibt Dinge, mit denen man sich nicht arrangieren kann und die einen bis in die (Alb-)Träume hinein verfolgen.
Was Bartolo nach Berlin in den Medienrummel des Berliner Filmfestivals geführt hatte, war der Dokumentarfilm "Fuocoammare", Beim Abschluss der Berlinale wurde er gleich drei Mal geehrt: Der Beitrag erhielt den Goldenen Bären, den Großen Preis der Festivals, sowie den Preis der Ökumenischen Jury und den Amnestie-Filmpreis.
"Fuocoammare" ist das neueste Werk von Regisseur Gianfronco Rosi, der sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten Dokumentaristen seiner Heimat gemausert hat. Sein Film "Sacro GRA", ein faszinierendes Porträt der Menschen, die entlang des großen Autobahnrings um die Metropole Rom wohnen, hat 2013 den "Goldenen Löwen" bei den Filmfestspielen in Venedig gewonnen.
Nähe zu den Menschen
Wie dieser Film lebt auch "Fuocoammare" von der Fähigkeit des Regisseurs, sich in verschiedene Milieus "hineinzufühlen" und eine große Nähe zu den Menschen herzustellen, die er in den Mittelpunkt stellt. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich Rosi für seine Projekte die Zeit nimmt, die sie brauchen.
Eigentlich war sein Film über die Insel Lampedusa nur als 10-minütiger Kurzfilm geplant, wie der Regisseur berichtet. Als er 2014 mit seinen Recherchen vor Ort begann, merkte er jedoch bald, in diesem kurzen Format der Komplexität der Zustände, die er auf der Insel vorfand, nicht gerecht werden zu können. Also zog er kurzerhand nach Lampedusa und verbrachte ein ganzes Jahr auf der Insel und auf dem Meer vor der Insel auf den Rettungsschiffen, um Material für einen Langfilm zu drehen.
Über das Normale hinaus
"Es war nötig, über das hinaus zu gehen, was die Medien normalerweise tun, die nur nach Lampedusa kommen, wenn sich ein Notfall ereignet. Während ich dort lebte, merkte ich, dass der Begriff 'Notfall' sinnlos ist. Jeder Tag ist ein Notfall. Jeden Tag passiert etwas. Um wirklich ein Gespür zu bekommen für die Tragödie, die sich da ereignet, muss man nicht nur nahe sein, sondern einen dauerhaften Kontakt haben", so der Regisseur.
Das Resultat dieser geduldigen Recherche ist ein Film, der nicht nur Zahlen, Fakten und die üblichen Nachrichtenbilder von schwarzen Menschen in überfüllten Booten liefert. Rosis Film beleuchtet einen facettenreichen Mikrokosmos, in dem Extremsituation und Normalität ganz nah beieinander sind. Das macht seinen Film zu einer emotionalen Achterbahnfahrt: Da amüsiert man sich in einer Szene über die Alltagsabenteuer eines kleinen Jungen, der mit seinem Fischer-Onkel und seiner Großmutter zusammen lebt, um in der nächsten Szene mit der Fassungslosigkeit zu ringen, wenn Rosis Kamera in den Bauch eines Schiffes blickt, das für die dort eingeschlossenen Flüchtlinge zur Todesfalle wurde.
Drastische Flucht-Beschreibungen
Da lauscht man in einer Szene den Klängen einer italienischen Schnulze, die Radiomoderator Pippo als Liebesgruß einer Hörerin für deren Mann spielt, und kurz danach einem improvisierten Lied, in dem einer der Flüchtlinge aus Eritrea oder dem Sudan drastisch den Leidensweg beschreibt, den er und seine Gefährten hinter sich haben.
Und im Zuge dieses Rhythmus aus Alltag und Ausnahmesituation dämmert einem, wie ungeheuerlich es ist, dass das wirklich passiert: Ein Mensch, wenn er sich denn Mensch nennen will, muss da einfach helfen wollen. Sagt Dr. Bartolo. Dank der Öffentlichkeit, die ihm und Rosis großartigem Film die Berlinale bescherte, werden ihn hoffentlich viele hören.