Ohne eine konstruktive "Re-vision" des Dogmas von der Unfehlbarkeit werde eine wirkliche Erneuerung der Kirche kaum möglich sein, schreibt Küng in der "Süddeutschen Zeitung" (Mittwoch). Auch die Verständigung zwischen den Konfessionen sowie die gegenseitige Anerkennung der Ämter und des Abendmahls sei andernfalls nicht zu lösen.
Küng, der lange Jahre in Tübingen lehrte, hatte 1979 wegen seiner Infragestellung der päpstlichen Unfehlbarkeit die kirchliche Lehrbefugnis verloren. Der heute 87-jährige Theologe beschreibt den Vorgang als eine "generalstabmäßig vorbereitete Geheimaktion, die sich als juristisch anfechtbar, theologisch unbegründet und politisch kontraproduktiv erwiesen hat". Der Beitrag erschien zugleich in anderen europäischen Printmedien.
Unfehlbarkeitsdogma: Geringe praktische Bedeutung
Das sogenannte Unfehlbarkeitsdogma wurde beim Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) verkündet. Es besagt, dass der Papst bei Lehrentscheidungen in Glaubens- und Sittenfragen nicht irren kann. Die praktische Bedeutung des Dogmas ist gering; nur einmal machte ein Papst überhaupt Gebrauch davon, als Pius XII. 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel verkündete.
Mit einer erneuten Debatte um die Unfehlbarkeit gehe es ihm nicht darum, persönlich recht zu bekommen, schreibt Küng. Vielmehr stehe das Wohl der Kirche und der Ökumene auf dem Spiel. Die Diskussion darüber sei zuletzt von der Bildfläche verschwunden, so der aus der Schweiz stammende Priester und Wissenschaftler. Viele katholische Theologen hätten sich aus Angst vor Sanktionen kaum mehr kritisch mit der Materie beschäftigt: "Und die Hierarchie versucht, das in Kirche und Gesellschaft unpopuläre Thema nach Möglichkeit zu vermeiden."
"Ergebnisoffene Diskussion"
Die antimoderne Epoche, die das Konzil von 1869/70 eingeleitet habe, sei heute endgültig abgelaufen, erinnert Küng. Im Rahmen seiner "Sämtlichen Werke" ist im Herder-Verlag jüngst der fünfte Band erschienen, der Küngs Texte zum Thema Unfehlbarkeit enthält.
Das Buch wolle er dem Papst an die Hand geben, um eine "freie, unvoreingenommene und ergebnisoffene Diskussion" zu ermöglichen, "nicht zur Zerstörung, sondern zur Auferbauung der Kirche", schreibt der Theologe. Allerdings sei die Unfehlbarkeitsfrage nicht über Nacht lösbar. Doch wenn Franziskus sie anstoßen würde, wäre dies für ihn die "Erfüllung einer nie aufgegebenen Hoffnung".