Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Professor Burgheim, warum ist Biografiearbeit für Sterbende wichtig?
Werner Burgheim (emeritierter Professor für Sozialpädagogik, Krisenpädagogik und Didaktik der Erwachsenenbildung): Jedes Leben ist ein Unikat mit Höhen und Tiefen, aber auch vielen Krisen und Dramatiken, die oft erst am Ende des Lebens wieder auftauchen, weil sie bisher gedeckelt oder verdrängt worden sind. Dadurch belasten sie am Ende des Lebens sehr. Von daher ist es wichtig, die Möglichkeit zu bieten, einen Dialog über diese Erlebnisse zu führen. Dabei geht es nicht um Therapie im klassischen Sinne, sondern darum, im Gespräch das eine oder andere aufzuarbeiten, was belastet, um in Frieden mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott gehen zu können.
KNA: Im Fokus Ihrer Arbeit steht die Kriegsgeneration. Worauf müssen ehrenamtliche Hospizhelfer hier achten?
Burgheim: Es geht darum, im Dialog und in einer gestalteten Beziehung herauszuarbeiten, was diese Lebensphase für die Betroffenen bedeutet. Es gibt Menschen, die aufgrund eines "Erinnerungsoptimismus" nur davon schwelgen, wie schön die Kameradschaft unter den Soldaten war und wie herrlich die Landschaften, die sie auf dem Weg an die Front gesehen haben. Vieles, was dramatisch war, wurde hingegen verdrängt. Wichtig ist, den Betroffenen die Zunge zu lösen und ein anderes Bild gegen diese Idealisierungen zu setzen. Auch sollte man problematische Situationen anschauen und sie mit den anderen Erinnerungen versöhnen. Das ist etwas, was auch Laien tun können, wenn sie entsprechend vorbereitet sind.
KNA: Ist dazu eine eigene Ausbildung nötig?
Burgheim: Man braucht zumindest eine Fortbildung, da auch spezielle Fähigkeiten nötig sind, aber keine eigene therapeutische Ausbildung. Denn die betroffenen Menschen können selbst bestimmen, was und wie viel sie von ihrem eigenen Leben erzählen und in welchem Maße sie an sich arbeiten wollen.
KNA: Viele Angehörige der Kriegsgeneration sind eher verschlossen. Wie kann man diese Menschen aufschließen?
Burgheim: Fremde Menschen, wie eben Hospizhelfer, haben es leichter als Familienmitglieder, weil sie nicht in die Lebensgeschichte involviert sind. Wichtig ist es zunächst, dass eine Beziehung aufgebaut ist, in der der Dialog stattfindet. Es darf also kein Verhör oder Ausfragen sein zur Befriedigung eigener Neugier, vielmehr ein Perspektivenabgleich. Gerade am Ende des Lebens ist die Bereitschaft - wenn man es richtig macht - größer, darüber zu reden, als wenn man noch mitten im Leben steht und ans Ende gar nicht denkt.
KNA: Welche Auswirkungen auf den Sterbeprozess kann die Biografiearbeit haben?
Burgheim: Im besten Fall bringt sie Erleichterung und Versöhnung, es werden Brücken gebaut, und der Betroffene kann vielleicht auch Schuld bekennen. Wenn er religiös ist, kann er möglicherweise auch Absolution erhalten oder auch das eine oder andere in einem neuen Licht sehen. Nach Ansicht von Neurologen wie etwa Gerald Hüther kann auf diese Weise der Kokon, der sich um die traumatischen Erlebnisse gebildet hat, aufgelöst werden durch neue Bilder und andere Bewertungen.
KNA: Was kann dieser Prozess für die Nachkommen bringen?
Burgheim: Es entlastet auch sie mitzuerleben, dass es eine Möglichkeit gibt, die Vergangenheit des Angehörigen in einem neuen Licht zu sehen. Vielleicht können sie dann auch Manches besser verstehen, was die Kriegsgeneration erlebt und vollbracht hat.
KNA: Welchen Stellenwert nimmt die Biografiearbeit insgesamt im Prozess der Sterbebegleitung ein?
Burgheim: Die Palliative Care, wie es international heißt, hat vier Säulen: Palliativmedizin, Palliativpflege, psychosoziale und spirituelle Begleitung. Im Moment haben Medizin und Pflege als Versorgung ein Übergewicht, so dass die Gefahr besteht, dass psychosoziale und spirituelle Begleitung, also die Hospizarbeit, ins Hintertreffen gerät. Alle vier Säulen der Palliative Care sind wichtig. Von daher ist die Biografiearbeit, die zur psychosozialen Begleitung gehört, ein wichtiger Beitrag und verdient besondere Beachtung.