domradio.de: Weltweit sind fast 41 Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Das meldet heute das Beobachtungszentrum für Binnenflüchtlinge in London. Und dort heißt es auch, dass das die höchste Zahl sei, die jemals registriert wurde. Sie überraschen diese Zahlen nicht, warum?
Pater Frido Pflüger (Jesuitenflüchtlingsdienst): Nein, weil die Flüchtlingszahlen seit Jahren sehr hoch sind. Letztes Jahr ging die Gesamtzahl 60 Millionen Menschen auf der Flucht durch die Presse und da waren es auch schon fast 40 Millionen Binnenflüchtlinge. Die Zahl ist natürlich angewachsen, aber nicht so überraschend, wenn man schaut, welche Konflikte auch noch in einem Jahr dazu gekommen sind.
domradio.de: Flüchtlinge, die in ein anderes Land gehen, werden von Ländern dann auch registriert. Ist das in den eigenen Ländern nicht schwieriger, das zu messen?
Pflüger: Das ist sehr schwierig, weil für die Binnenflüchtlinge immer das eigene Land zuständig ist. Das heißt für die Flüchtlinge, die im eigenen Land bleiben – wie zum Beispiel im Irak oder in Syrien – da ist auch dieses jeweilige Land für diese Menschen zuständig. Im Irak und in Syrien gibt es ja kaum noch richtig funktionierende Strukturen. Dort sind das zum größten Teil dann eben Schätzungen. In anderen Ländern wie dem Sudan oder dem Süd-Sudan gibt es zum Teil schon Registrierungen. In den Ländern hat man dann relativ sichere Zahlen. Aber allgemein ist die Dunkelziffer natürlich viel höher als bei den Flüchtlingen, die eine Grenze überschreiten. Ich glaube sogar, dass es also auch mehr als diese offizielle Zahl von circa 41 Millionen Binnenflüchtlingen sein können.
domradio.de: Wie unterscheidet sich die Situation der Menschen, die im eigenen Land Zuflucht finden, von denen, die zum Beispiel zu uns hier nach Europa kommen?
Pflüger: Die Flüchtlinge, die hier nach Europa kommen, bekommen zumindest hier in Deutschland eine einigermaßen ordentliche Versorgung. Bei den Binnenflüchtlingen ist das meist anders. In den Ländern kümmert sich zum Teil niemand um die Flüchtlinge. Jedes Land hat eine rechtliche Selbstbestimmung, und so können Hilfsorganisationen oder auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) nicht einfach in Länder wie Somalia hineingehen und sagen: "Wir kümmern uns jetzt um Eure Bürger." Das ist ja immer Sache des Landes. Und deshalb sind die Binnenflüchtlinge sehr auf sich allein gestellt und damit auch sehr verletzbar.
domradio.de: Kann man sagen: Das sind auch die ärmsten Menschen, weil sie kein Geld haben, um das Land zu verlassen und in Europa ein neues Leben zu beginnen?
Pflüger: Auch die das Land verlassen, gehen bei Weitem nicht alle nach Europa. Statistisch sind das ja auch nur fünf Prozent, die nach Europa flüchten. Der größte Teil der Flüchtlinge geht in die benachbarten Länder. Flüchtlinge aus Somalia gehen zum Beispiel meist in das direkt angrenzende Äthiopien oder nach Kenia.
domradio.de: Über diese Binnenflüchtlinge wird in Deutschland sehr wenig gesprochen. Woran liegt das?
Pflüger: Wir haben zunächst mit diesen Menschen nicht direkt etwas zu tun. Die berühren unser Leben nicht. Die Flüchtlinge, die zu uns ins Land kommen, die berühren unser Leben. Die die in den benachbarten Ländern sitzen, die sehen wir nicht.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.