Für den Historiker ist die Sache klar: Die deutsche Reichsregierung als enger Verbündeter des Osmanischen Reiches habe bereits im Juli 1915 gesagt, es sei "die erklärte Absicht der osmanischen Regierung, die armenische Rasse auf dem Boden des türkischen Reichs zu vernichten." Dr. Rolf Hosfeld zitiert Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin. Er ist der wissenschaftliche Leiter des Lepsiushauses, einer deutsch-armenisch-türkischen Begegnungsstätte in Potsdam. Für Hosfeld wurde die deutliche Aussage der damaligen deutschen Regierung nicht leichtfertig getroffen, sondern aufgrund der zahlreichen Informationen, die über die Massaker und Vertreibung der Armenier vorgelegen hätten. "Die Aussage ist so eindeutig, dass man sagen kann, das ist seit 100 Jahren deutsches Regierungswissen."
Deutsche Politik sagt Völkermord, türkische Regierung lehnt den Begriff ab
Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert folgen der Auffassung des Historikers und haben schon bei verschiedenen Anlässen vom Völkermord an den Armenier gesprochen. Nach Schätzungen kamen während des Ersten Weltkriegs bis zu 1,5 Millionen Armenier bei Massakern und Deportationen durch das Osmanische Reich ums Leben. Der Deutsche Bundestag will in seiner Resolution den Begriff Völkermord verwenden. Doch die türkische Regierung warnt davor. Den Vorwurf des Völkermords zu verbreiten, ohne dafür Beweise vorzulegen, komme einer politischen Ausbeutung des Themas gleich, sagte zum Beispiel Ibrahim Kalin, Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Der Journalist Eren Güvercin meint, viele Türken, auch türkischstämmige in Deutschland, stellten sich die Frage, warum ausgerechnet jetzt über das Thema gesprochen wird. Die Vorgängerregierungen von Präsident Erdogan hätten die Vorfälle ignoriert und geleugnet. Erdogan habe sich als Ministerpräsident offiziell bei den Armeniern "für die tragischen Ereignisse" entschuldigt und angeboten, die türkischen Archive zu öffnen. Güvercin wurde als Sohn türkischer Eltern in Köln geboren. Der Publizist sagt, dass viele türkischstämmige Menschen in Deutschland und Türken das Gefühl hätten, dass "gewisse Politiker den Begriff Völkermord als politischen Kampfbegriff nutzen." Doch nicht nur Politiker und die Mehrzahl der Historiker verwenden diesen Begriff. Auch Papst Franziskus sprach bei einem Gottesdienst 2015 im Petersdom vom "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts". Anlass war das Gedenken an die Tragödie hundert Jahre zuvor. Prompt zog die Türkei vorübergehend ihren Botschafter aus dem Vatikanstaat ab.
Für Armenier geht es auch um Überwindung von heutigem Rassismus
Jaklin Chatschadorian ist die Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland. Etwa 60.000 Armenier oder armenisch stämmige Menschen leben in Deutschland. Ihr ist wichtig, dass die Geschehnisse von damals heute beim Namen genannt werden, weil in dieser Bezeichnung ein bestimmtes Werturteil, eine ethische Grundhaltung liege: "In der Resolution des Bundestages liegt die Kennzeichnung und die politische Ächtung der mit Vernichtungsabsicht erfolgten Massaker und Deportation der damaligen Christen".
Wie Historiker Hosfeld ist Chatschadorian davon überzeugt, dass die Geschehnisse von 1915 ein Völkermord waren. Dass die Türkei das bis heute nicht einräumt, liege daran, dass es am Ehrbegriff sowohl der Politik und der Gesellschaft rühre. Aber Versöhnung brauche Ehrlichkeit. Bis heute gebe es Rassismus gegen Armenier und andere Minderheiten in der Türkei.
Christen wurden im Osmanischen Reich Opfer von Vertreibung und Massaker
Hosfeld glaubt nicht, dass sich aus Forschungssicht an der Einschätzung, dass 1915 ein Völkermord war, noch entscheidend etwas ändert wird. Auch andere Regierungen der damaligen Zeit seien zu dieser Ansicht gekommen, etwa die damals neutrale Regierung der USA. Archivfunde heute könnten nur noch Details beleuchten. Deutschland als enger Verbündeter des Osmanischen Reiches habe den Völkermord weder verursacht noch gutgeheißen, sei aber moralisch schuldig geworden, "vor allem deshalb, weil das Deutsche Reich jede öffentliche Debatte zu dieser Frage mit Gewalt unterdrückt hat." Dass es mit den Armeniern und anderen Minderheiten Christen getroffen hat, erklärt Hosfeld mit einem Prozess der Nationalisierung, einer Homogenisierungsstrategie durch eine nationalrevolutionäre Elite im Osmanischen Reich: "Man war damals der Ansicht, dass Christen nicht integrierbar sind in einem türkisch-muslimischen Kulturkontext."
Hoffnung auf Versöhnung bleibt
Der Bundestag hält bislang an seinem Vorhaben fest, die Resolution am 2. Juni zu verabschieden – obwohl Berlin bei der Lösung der Flüchtlingskrise dringend auf die Unterstützung der türkischen Regierung angewiesen ist. Jaklin Chatschadorian ist trotz der angespannten politischen Lage hoffnungsvoll, dass es zu einer Versöhnung zwischen Armeniern und Türken kommen kann: "Es braucht Zeit, das geht nicht so schnell. Aber es gibt kleine, positive Beispiele für Versöhnung und die gilt es zu unterstützen."