Bei zwei Bootsunglücken im Mittelmeer sind womöglich Hunderte Menschen ums Leben gekommen. An der libyschen Küste wurden am Freitag 104 Leichen angespült, die vermutlich schon vor Tagen mit ihrem Boot gekentert waren. Derweil suchten südlich der griechischen Insel Kreta Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber nach Überlebenden eines zweiten Unglücks, bei dem mehrere hundert Flüchtlinge ertrunken sein könnten.
Offenbar viele Vermisste bei Unglück vor Kreta
An Bord des Kutters vor Kreta befanden sich nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vermutlich rund 700 Menschen. Bislang habe man etwa 340 von ihnen retten können, bestätigte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Außerdem seien vier Leichen geborgen worden.
Das Boot soll sich auf dem Weg von Ägypten nach Italien befunden und am Donnerstagnachmittag einen Notruf abgesetzt haben. Die griechische Seenotrettung habe nach dem Notruf vier in der Umgebung befindliche Schiffe an den Unglücksort beordert, hieß es weiter. Am Freitagmorgen sei der Kutter gekentert.
Schlepper suchen alternative Routen
In Libyen nahm die Küstenwache an, dass die angespülten Leichen von Bord eines Schiffes stammen, das eine Patrouille am Donnerstag leer vorgefunden hatte. Das Unglück könne sich aber schon am Mittwoch ereignet haben, sagte ein Sprecher im britischen Rundfunksender BBC.
Seit der Schließung der Griechenland-Route über die der Türkei vorgelagerten Inseln Lesbos, Samos, Chios und Kos versuchen Schlepper offenbar verstärkt, Flüchtlinge über alternative Routen nach Europa zu bringen. Seit Anfang des Jahres sind im Mittelmeer nach Angaben der IOM mehr als 2.400 Flüchtlinge ertrunken, mehr als 1.000 davon alleine in den vergangenen zehn Tagen.
Mailänder Kardinal: EU und UNO versagen bei Flüchtlingsfrage
Versagen im Umgang mit den Flüchtlingen wirft der italienische Kardinal Angelo Scola der EU und den Vereinten Nationen vor. "Die UNO hat versagt und Europa ist verschwunden: Wir brauchen eine weltweite neue Regelung", sagte der Erzbischof vom Mailand am Freitag in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung "La Repubblica". Die aktuelle Lage sei "auch Konsequenz der Misserfolge der europäischen Politik, ich denke an Deutschland, Österreich und die angrenzenden Länder", so der 74-Jährige.
"Marshallplan" zur Lösung
Scola schlug eine Art "Marshallplan" unter italienischer Führung zur Lösung der Flüchtlingsfrage vor. Das Wirtschaftsprogramm von US-Außenminister George Marshall hatte Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich beim Wiederaufbau geholfen. Eine ähnliche Strategie müsse Europa für die Herkunftsländer der Flüchtlinge finden. Italien müsse dabei aufgrund seiner geografischen Lage und seiner "sozialen und kulturellen Elastizität" eine Führungsrolle übernehmen.
In Italien würden mindestens 30 Prozent der Flüchtlinge von Katholiken betreut, aber es müssten strukturelle Lösungen gefunden werden, so der Kardinal. Scola teilte mit, das Erzbistum Mailand arbeite an einem Notfallplan, um im Sommer weitere Flüchtlinge auf verschiedene Pfarreien zu verteilen. Dazu sollten auch Gebetssäle, Turnhallen und Schulen genutzt werden.
Kirche warnt vor einem "Sommer des Sterbens"
Nach den jüngsten Unglücken von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, vor einem "weiteren Sommer des Sterbens" gewarnt. "Der verzweifelte Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, hat allein in dieser Horrorwoche viele hundert Flüchtlinge das Leben gekostet", erklärte Bedford-Strohm am Samstag.
"Die Bilder dieses massenhaften Sterbens machen uns betroffen und sprachlos. Sie dürfen uns aber nicht abstumpfen und verstummen lassen. Wir beten für die Opfer und schließen auch die Politiker Europas in unsere Gebete ein." Der bayerische Landesbischof forderte: "Wir müssen jetzt alles daran setzen, einen weiteren Sommer des Sterbens zu verhindern."