domradio.de: Wie geht es Ihnen heute am Montag nach dem Brexit-Votum?
Dr. Johannes Arens (Anglikanischer Domkapitular am Dom von Leicester): Es geht vielen Leuten besser, die ihre Stimme wiedergefunden haben. Das Land ist extrem zerrrissen, die Leute sind stinksauer. Viele der Wahlversprechen lösen sich jetzt in Luft auf. Es wurde ja schon vor der Wahl Geld verteilt, vor allem auf das Gesundheitssystem. Mittlerweile wird klar, dass es gar nichts zu verteilen gibt. Im Gegenteil, wir stürzen in eine zweite Rezession.
domradio.de: Haben da viele eine höchst wichtige Entscheidung verschlafen?
Arens: Die Wahlbeteiligung war ja sehr hoch. Da kommen rationale und emotionale Dinge zusammen, die im Widerspruch zueinander stehen. Viele träumen ja davon, dass die Briten nach dem Brexit wieder Herr im eigenen Hause sind, selber regieren und an den Grenzen entscheiden können, wer reinkommt und wer nicht. Dass das aber dem freien Markt entgegensteht, ist vielen nicht klar. Dass unsere Wirtschaft massiv vom freien Markt abhängt und von der Freizügigkeit. Das Grundproblem war, das Europa als anonymer Moloch wahrgenommen wird, wo in Brüssel Technokraten Entscheidungen treffen, die gar nichts mit den Menschen zu tun haben. Aber es wurde gar nicht honoriert, dass die EU ein unglaublich ambitioniertes und erfolgreiches Friedensprojekt ist. Gerade in dieser Zeit brauchen wir die EU.
domradio.de: Was wissen Sie denn über diese Leute, die sich da offenbar nicht mit der Niederlage abfinden wollen und jetzt ein neues Referendum fordern?
Arens: Das sind mittlerweile vier Millionen Briten. Viele sind verärgert und sagen, die Menschen seien im Vorfeld belogen und betrogen worden. Und es scheint auch vielen Brexit-Befürwortern mittlerweile peinlich zu sein, in welcher Gesellschaft sie sich befinden. Es gibt nämlich schon fremdenfeindliche Übergriffe, z.B. auf ein polnisches Zentrum, da wurde "Polen raus" skandiert. (siehe auch Infobox links, A.d.R.)
Das Interview führte Sylvia Ochlast.