"Für uns gibt es nie Ruhe." Eine verzerrte Stimme ist in dem Film zu hören, der auf der Online-Plattform Youtube steht. Zu sehen sind dazu Bilder einer völlig ausgehungerten Anneliese Michel aus dem unterfränkischen Klingenberg. Die an Epilepsie erkrankte Studentin starb vor genau 40 Jahren am 1. Juli im Alter von 23 Jahren - nach mehreren Exorzismen. Sie wog nur noch 31 Kilogramm.
Überarbeitung des Exorzismus-Ritus
Ihr Fall sorgte damals für Schlagzeilen und für eine Überarbeitung des Exorzismus-Ritus der katholischen Kirche, die nun eine medizinische Betreuung verpflichtend vorschreibt. In Klingenberg hat ärztliche Hilfe gefehlt. Die Eltern und die beteiligten Priester wurden später wegen unterlassender Hilfeleistung zu Bewährungsstrafen verurteilt.
Die Familie von Anneliese Michel ist streng religiös. Regelmäßig pilgert sie in den nicht anerkannten italienischen Wallfahrtsort San Damiano. Als die Tochter zur Zeit ihres Abiturs erste Krampfanfälle bekommt, diagnostizieren die Ärzte Epilepsie. Die Familie will das nicht wahrhaben. Ein Pfarrer soll helfen. Er hält Anneliese für besessen, ein Jesuit fertigt ein Gutachten an.
Fall wird instrumentalisiert
Am 16. September 1975 ordnet der damalige Würzburger Bischof Josef Stangl (1907 bis 1979) den sogenannten großen Exorzismus an. Mehrere Monate finden daraufhin Sitzungen im Elternhaus statt, die junge Frau magert immer mehr ab. Weder die Eltern noch der Exorzist, ein Ordenspriester, reagieren. Am 1. Juli 1976 stirbt die junge Frau. Auch 40 Jahre später wird ihr Fall noch instrumentalisiert.
Mitschnitte des Exorzismus auf Ton-Kassetten, die von den beteiligten Priestern aufgenommen wurden, gibt es entgegen den kirchlichen Regeln bis heute im Internet zum Anhören. Früher wurden sie sogar mit Unterstützung der traditionalistischen Piusbruderschaft auf Schulhöfen verteilt, wie Petra Ney-Hellmuth in einem 2014 erschienenen Buch berichtete. Die Historikerin hat den Fall Anneliese Michel wissenschaftlich aufgearbeitet und dafür Zugang zu bis dahin gesperrten staatlichen wie kirchlichen Akten bekommen.
Die Mitschnitte sind Teil einer Kampagne gegen das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965). Denn die angeblich "dämonischen Botschaften" richteten sich auch gegen die Neuerungen der Kirchenversammlung. Zudem würden mit der Darstellung des Leidens der Anneliese Michel der Glaube an die Existenz von Besessenen aufrechterhalten und im Verborgenen laufende Teufelsaustreibungen in Deutschland weiter gerechtfertigt, so der Schluss der Historikerin.
Bischof heftiger Kritik ausgesetzt
Auch die Rolle von Bischof Stangl nahm Ney-Hellmuth unter die Lupe. Stangl sah sich nach dem Tod der Studentin heftiger Kritik ausgesetzt. Einerseits warfen ihm konservativ-traditionalistische Katholiken vor, die beiden mit dem Exorzismus beauftragten Priester nach deren Verurteilung fallen gelassen zu haben. Auch seine "fortschrittliche Erklärung", biblische Begriffe über das Böse vor dem jeweiligen zeitlichen und kulturellen Hintergrund zu interpretieren, stieß auf Widerspruch, wie Ney-Hellmuth herausgearbeitet hat.
Andererseits nahmen liberale Katholiken an Stangls Reaktion Anstoß, weil sie ihnen nicht weit genug ging. Das lag der Historikerin zufolge auch daran, dass der Bischof auf Druck der Bischofskonferenz und des Vatikan nach dem Gerichtsurteil im Jahre 1978 keine abschließende Erklärung abgeben konnte. Stangl trat 1979 zurück und starb kurz darauf.
Ney-Hellmuth zeichnet in ihrem Buch ein differenziertes Bild des Bischofs. Ein Exorzismus sei zunächst ein Gebet, Stangl habe den beiden Priestern vertraut. Der Verzicht auf ärztliche Behandlung sei nicht ihm anzulasten, so die Historikerin. Mittlerweile sind der Pfarrer und der Ordenspriester, die an dem Exorzismus beteiligt waren, gestorben.