domradio.de: Ist die Türkei nach dem versuchten Putsch auf dem Weg in einen Erdogan-Staat?
Martin Lessenthin (Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte): Seit Jahren ist Erdogan dabei, rechtstaatliche Prinzipien zu verletzen, Menschenrechte und Partizipation seiner Bürger abzubauen. Stichworte: Gezi-Park, Sperrung der sozialen Netzwerke, das Vorgehen gegen oppositionelle Gruppen und gegen die Kurden. Und die vielen Abberufungen von Richtern, Verhaftungen von Journalisten, die Gleichschaltung von Medien.
domradio.de: Wäre ein Putsch ein Befreiungsschlag gewesen?
Lessenthin: Ein Putsch, der Erdogan entmachtet hätte, wäre ein sehr schlechtes Faktum. Denn man erwirbt nicht die Macht, indem man putscht. Die Macht muss vom Volk kommen und durch Wahlen legitimiert sein.
Aber mit der Legitimation von Erdogan kann man aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht auch nicht zufrieden sein. Die letzten Wahlwiederholungen erweckten den Anschein, dass sie durchgeführt wurden, um Erdogans Wunsch einer Präsidialverfassung näher zu kommen.
domradio.de: Wird sich das Land weiter in die autokratische Richtung entwickeln? Will das Volk das?
Lessenthin: Wirtschaftlicher Misserfolg unter Erdogan wird dazu führen, dass ein Teil seiner Anhängerschaft wieder schwindet. Natürlich werden auch die Aushöhlungen des türkischen Rechtsstaates und die Repressalien gegenüber den Minderheiten dazu führen, dass es eine anhaltende Opposition im Land gibt. Es ist noch offen, wie sich das hinsichtlich des Machterhalts Erdogans auswirken wird. Es wird den Menschen schlechter gehen. Die Touristen bleiben aus, andere Wirtschaftszweige darben ebenfalls.
Was wir jetzt immer häufiger hören, ist, dass gut ausgebildete Türken das Land verlassen wollen, weil sie für sich unter Erdogan keine Zukunft sehen. Das ist eine bedenkliche Entwicklung, genau wie das Anschwellen des Flüchtlingsstroms von solchen Menschen, die vor Erdogan fliehen.
Ich fürchte aber, dass es zu einem noch größeren Abbau der demokratischen Rechte kommt und Erdogan ganz bewusst diesen Weg fortsetzt.
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.