domradio.de: Sie haben sich mit den Menschen vor Ort unterhalten. Welche Hoffnungen hatte denn gerade die ärmere, benachteiligte Bevölkerungsschicht, die meist in den sogenannten Favelas der Stadt lebt, mit diesen Spielen verknüpft?
Stephan Jentgens (Geschäftsführer des katholischen Lateinamerikahilfswerks Adveniat): Die Erwartungshaltung war, dass sich vor allen Dingen im Sozialbereich und im Gesundheitswesen einiges verbessert. Dass Bildung gut möglich und weiter finanziert wird. Es hat sich aber gezeigt, dass es schwierig wurde. Vor den Spielen wurde der Staat Rio de Janeiro zahlungsunfähig und die Bundesregierung musste einspringen, um wenigstens die olympische Infrastruktur voranzubringen. Das ging aber zu Lasten des Sozialetats und des Gesundheitswesens. Mit der konkreten Folge, dass in den Armenvierteln die Gesundheitsposten nicht besetzt waren, Menschen wurden nicht versorgt, viele soziale Einrichtungen müssen nun um ihre Finanzierung bangen.
domradio.de: Das heißt, die Armen bleiben als Verlierer dieser Spiele zurück?
Jentgens: Die Menschen in Rio bleiben erst einmal mit dem Grundgefühl zurück, dass sie es geschafft haben, diese Spiele auszurichten, nicht mit Euphorie, manchmal mit Skepsis und Bangen. Bestimmte Infrastrukturprojekte bleiben. Es bleiben aber auch viele Schulden und die Sorge um die Finanzierung des Sozialbereichs.
domradio.de: Es gab ja auch Euphorie, z.B. beim Gewinn der Goldmedaille im Fußball. Setzt das nicht auch Kräfte frei, die das Land vielleicht mental weiterbringen können?
Jentgens: Es geht ja um die Frage des Stolzes und des Selbstbewusstseins. Das war für die Brasilianer und vor allem für die Bewohner Rios ganz besonders wichtig, auch das Gefühl, die Welt beheimatet zu haben. Das bleibt auch. Brasilien hat es als erstes Land Südamerikas geschafft, die Spiele auszurichten.
domradio.de: Adveniat setzt sich für die benachteiligen und diskriminierten Menschen in Rio ein - baut politisch Druck auf und informiert über Missstände. Haben die Olympischen Spiele Ihre Arbeit verändert?
Jentgens: Ja. Die Arbeit von Adveniat ist noch markanter und noch politischer geworden. Wir haben neue Interessengruppen angesprochen, die sonst von der Kirche nicht so direkt angesprochen werden. Vor allem die Sportlerinnen und Sportler in den Vereinen. Und wir haben gemerkt, dass man über den Atlantik hinweg mit zwei Kampagnen gemeinsam an einer Sache arbeiten kann: Die Kampagne "Rio bewegt uns" ist die deutsche Kampagne und die Kampagne "Rio bewegt sich" ist die brasilianische. Damit haben wir ordentlich Druck ausgeübt und Öffentlichkeit geschaffen. Das war ganz wichtig.
domradio.de: Wo sehen Sie auch nach den Spielen die größten Herausforderungen?
Jentgens: Es sind leider die gleichen Herausforderungen wie vor den Spielen. Die Wirtschaftskrise, die Angst vieler Menschen, wieder in die Armut abzurutschen. Die politische Krise. Und es ist auch deutlich geworden, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer wird. Es gab Armenviertel, in denen die Spiele überhaupt keine Rolle gespielt haben. Und dann gab es das Viertel im Süden der Stadt mit Verhältnissen wie in Miami, wo die Olympiade ganz groß plakatiert wurde und allgegenwärtig war.
Das Interview führte Daniel Hauser.