domradio.de: Ihr Bekenntnis als Priester zu einer engen Freundschaft zu einer Frau hat einige Reaktionen hervorgebracht, hatten Sie damit gerechnet?
Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler (St. Maximilian, München): Natürlich wussten wir, dass dieses Thema Wellen schlagen würde. Nicht gerechnet hatten wir aber mit dem, was die Bild-Zeitung daraus gemacht hat. Wir sind ja ganz bewusst an die Öffentlichkeit gegangen, um die Sache einmal zu thematisieren, dass zölibatär lebende Menschen keine katholischen Stofftierchen sind. Dass wir Menschen sind, dass wir Männer sind, dass wir unsere ganze Gefühlswelt und Sexualität nicht abgelegt haben. Und mit unserem Versprechen, ehelos zu leben auch nicht gesagt haben, wir würden nie Gefühle zu einem anderen Menschen entwickeln können. Natürlich wird das passieren! Die Frage ist, in welcher Verantwortung ich damit umgehe. Wenn die Bild-Zeitung nur ein etwas faires Blatt wäre, hätte sie vielleicht getitelt: "Ich liebe eine Frau und bin dennoch voller Begeisterung im Zölibat". Das wäre eine positive Schlagzeile gewesen. Aber es ist nun einmal so, die einen trommeln, die anderen verkünden.
domradio.de: In unserer übersexualisierten Gesellschaft scheint sich die Vorstellung einer platonischen und trotzdem erfüllten Liebe der Vorstellungskraft zu entziehen.
Schießler: Ja. Das ist natürlich auch eine Art Fazit nach 30 Jahren. Ich bin 1986 zum Diakon geweiht worden und habe mein Zölibatsversprechen abgelegt. Ich habe darüber nachgedacht, wie es mir eigentlich in diesen vielen Jahren ergangen ist. Ich kam zu dem sehr vernichtenden Urteil, dass ich eigentlich nie ernst genommen worden bin. Die einen haben sehr liebenswert und ein wenig augenzwinkernd gesagt, ich könnte doch eh nicht ohne Sex leben. In der Kneipe hieß es dann, ich würde es ja nur ausschwitzen. Ich solle es halt zugeben, wir Priester seien doch eh alle auf diesem Bahndamm unterwegs. Solche Sachen. Die anderen versuchen dann mit hehren theologischen Erklärungen die zölibatäre Lebensweise zu untermauern.
Ich verstehe das eigentlich nicht. Warum nimmt man uns in unserem Gefühl nicht ernst? Warum nimmt man uns nicht ab, dass wir es wirklich voller innerer, tiefer Begeisterung und Freiheit tun? Ich bin nicht in diesen Zölibat hineingegangen, weil jemand gesagt, ich müsse es tun. Oder gesagt hat, nur dann dürfe ich Priester werden. Sondern, weil da Menschen waren, die mir diese Lebensweise lukrativ vorgelebt haben. Da habe ich gedacht, das probiere ich auch aus, ganz egoistisch, ganz altruistisch und nur an mich gedacht.
domradio.de: Aber warum denken die Leute so?
Schießler: Es war immer schon so. Anscheinend haben junge, zölibatär lebende Männer einen gewissen Sexappeal. Mir wurde auch immer gesagt, ich hätte doch bestimmt einen Schlag bei den Frauen. Und sich dann vorstellen zu können, dass jemand souverän damit umgeht, das ist heutzutage nicht mehr präsent, auch weil in Deutschland die Menschen die Lebensweise von Priestern gar nicht mehr kennen, denn es gibt kaum noch Priester. Wir haben im aktuellen Jahrgang in Deutschland nur noch 58 Priester. Das waren früher die Zahlen nur für Köln. Also trifft man kaum noch Neupriester, die das vorleben könnten. Aber das ist jetzt keine Schande, kein Naturereignis und vor allem kein böser Teufel, der das macht, sondern, weil wir uns als Gesellschaft verändert haben. Weil wir moderne Menschen und Katholiken sind und heute anders glauben. Weil wir heute anders von Gott und auch von Sexualität reden und leben.
domradio.de: Was kann denn die Kirche tun, damit sich wieder mehr Männer für das Priestertum entscheiden?
Schießler: Mir geht es darum, dass eine Kirche heutzutage nicht mehr auf der Schiene der Pflicht auftreten kann. Egal, ob es um den Zölibat, den Gottesdienstbesuch oder die Sexualmoral geht. Wir müssen uns rückbesinnen auf die Einladung. Ich werde niemanden mehr für diese Lebensweise begeistern, wenn ich es als Pflicht darstelle.
domradio.de: Also sollte der Zölibat eine freie Entscheidung sein?
Schießler: Absolut. Genau, wie ich damals entschieden habe. Ich habe auch frei entschieden. Und wenn mir heute die Leute sagen, ich solle doch heiraten dürfen, komme ich mir auch ungerecht behandelt vor, weil ich mich eben aus freien Stücken entschieden habe - im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und aus tiefster Überzeugung. Ich möchte eine Kirche, die sich Gedanken darüber macht, was dagegen spricht, dass sie dieses Amt in die Hände wohlbewährter Männer mit Frau und Kind geben kann. Die mitten im Leben, im Beruf und in der Liebe und der Familie stehen. Christus hat nie diese Unterscheidung gemacht. "Komm und sieh", sagt Jesus am See Genezareth. Es geht um eine Einladung und nicht um Pflicht.
domradio.de: Glauben Sie, viele Priester denken so?
Schießler: Ich bin überzeugt davon, dass jeder zweite Priester so denkt. Und dass Priester - wie alle anderen Menschen auch - Gemeinschaft brauchen, Geborgenheit, Heimat, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit haben. Wobei Zärtlichkeit ein sehr weites Feld ist. Für mich heißt das nicht, händchenhaltend über die Straße zu laufen. Für mich heißt das, dass ich mich nach einem anstrengenden Tag einem Menschen anvertrauen kann, dass mich jemand tröstet. Jemand, der an mich denkt. Und der mich vielleicht auch einmal pflegt und an meinem Krankenbett sitzt. Das Wissen darum, dass ein Mensch da ist, der stets zu dir steht und zu dem ich stets stehe. Das ist für mich Zärtlichkeit und dieser Zärtlichkeit habe ich nicht abgeschworen bei meiner Weihe. Der Mensch an meiner Seite, der mein Leben stark und reich macht, der mir die Kraft gibt und der mich vielleicht deswegen zu einem so engagierten Priester macht, weil er da ist als mein Seelenverwandter. Das brauche ich wie jeder andere Mensch. Und dafür muss ich keinerlei Versprechen brechen, die ich meiner Kirche aus freien Stücken gegeben habe.
domradio.de: In Ihrem Buch schreiben Sie aber auch von Einsamkeit und dass Sie in ihrer Dienstwohnung nie heimisch geworden seien. Wie geht das zusammen?
Schießler: Weil ich es freiwillig gewählt habe, habe ich mich natürlich auf diese Einsamkeit eingelassen. Und Freiwilligkeit ist ganz wichtig. Hätte ich es nicht freiwillig gewählt, wäre ich wohl ungültig in dieser Lebensweise. Das kann nur gehen, wenn du ganz freiwillig darein gehst. Ich kenne zwar die Strukturen, ich weiß, dass ich nur Priester werden kann, wenn ich die zölibatäre Lebensweise annehme und akzeptiere. Und darum bezeichne ich es als Abenteuer: Weil ich in dem Moment, in dem ich es verspreche, genau weiß, dass ich nichts abgeschlossen habe, sondern etwas anfange. Eine Reise, so als wenn jemand Urlaub macht.
Ja, man muss die Einsamkeit ertragen. Aber das tut auch manchmal sehr gut. Die Einsamkeit besteht aus zwei "L": Last und Lust. Manchmal brauchst du das, wirklich für dich alleine zu sein. Heimkommen, Füße hoch, Bierflasche auf, Fernseher, dahin fläzten und für dich selber sein können. Und manchmal erdrückt sie dich. Und das meine ich auch mit Abenteuer. Jeder Santiago-Pilger kann davon berichten: Es gibt Wegstrecken, wo du so selig bist, dass du alleine gehst - und dann sehnst du dich danach, dass du mal wieder eine Gruppe triffst, der du dich anschließen kannst. Wie eine Pilgerstrecke muss man auch diese Lebensweise sehen.
Mit der Einsamkeit in der Dienstwohnung meine ich auch weniger den Zölibat. Sondern eigentlich, dass man von uns Priestern selbstverständlich verlangt, dass wir in Strukturen wie vor fünfzig oder hundert Jahren leben, die sich aber äußerlich völlig verändert haben. Noch vor dreißig Jahren war der Pfarrhof ein lebendiges Gebäude mit vielen Leuten, die dort gewohnt haben. Du hast immer Menschen getroffen. Heute leben wir mit drei oder vier Pfarreien in einem Pfarrhof, riesengroß und ganz allein. Und man erwartet einfach, dass das funktioniert. Ich habe mich nicht zum Eremiten berufen gefühlt, aber ich möchte, dass man dort einmal zum Umdenken bereit ist – dass man merkt: ich kann Leute nicht in diese Lebensweise hineinbringen ohne mit ihnen an einer Gemeinschaft zu bauen, die sie unbedingt brauchen. Auch um ansteckend leben zu können – wieso kommen denn keine Jugendlichen nach? Ich schaue zwar nicht geknickt aus, aber trotzdem wissen die jungen Leute, dass sie so nicht leben wollen. Die sagen: "Was soll denn das? Da hockt der in seinem riesen Palast und schaut blöd!" Das ist doch ein schlechtes Image für eine solche Lebensweise!
Das Interview führten Pia Steckelbach und Johannes Schröer.